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Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Das letzte Geleit: Kriminalroman (German Edition)
Autoren: Christiane Fux
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    Wintersturm
     
    Sonnabend, 13. Dezember 2008
    Windstärke 8, in Böen 9. Das Wasser donnerte Faustschläge auf das Wagendach. Die Scheibenwischer unternahmen einen weiteren hilflosen Versuch, die Wassermassen von der Scheibe zu schaufeln, die sich unmittelbar hinter ihnen wieder zu einem millimetertiefen Strom vereinigten.
    »Definitiv eine neue Sintflut«, murmelte Theo Matthies. Sein alter Citroën hatte sich wieder einmal den denkbar ungünstigsten Zeitpunkt ausgesucht, um zu streiken, sodass Theo nach einem Kundenbesuch die Zündkerzen im strömenden Regen trocken kriegen musste. Die Welt draußen war nur noch schemenhaft zu erkennen: ein zerlaufenes Aquarell in Grün und Grau, darin der Briefkasten als leuchtend gelber Klecks. Der Lastwagen, der vernünftigerweise am Straßenrand stehen geblieben war, brachte einen knallroten Farbtupfer in die Szenerie. Wider besseres Wissen steuerte Theo seinen Wagen im Schneckentempo die vierspurige Hauptstraße Kornweide entlang. Immerhin, tröstete er sich, kannte er die Strecke im Schlaf. Wenige Hundert Meter vor seinem Ziel hatte er keine Lust, anzuhalten und abzuwarten, bis das Unwetter vorbei war. Sein schwarzer Rollkragenpullover und die Jeans klebten ihm wie kalte, nasse Waschlappen am Körper, und er sehnte sich nach einem starken Kaffee.
    Vor wenigen Tagen hatte noch schreckliche Kälte geherrscht. Die Erde spielt verrückt, dachte er. Solche Regengüsse gab’s in Hamburg sonst nur im Frühjahr und im Herbst – und nicht mitten im Dezember.
    Bei Sturm war ihm auf der Elbinsel Wilhelmsburg immer mulmig zumute, obwohl es in den 34 Jahren seines Lebens hier nie eine größere Katastrophe gegeben hatte. Doch zeugten noch viele Schilder an älteren Hauswänden von den Pegelständen der Sturmflut, die im Februar 1962 unbarmherzig Löcher in den Deich gefressen und schließlich die Insel überflutet hatte. 315 Todesopfer hatte es damals in Wilhelmsburg gegeben, und ein noch weitgehend unbekannter hanseatischer Polizeisenator namens Helmut Schmidt konnte dem ganzen Land seine Tatkraft vorführen. Als Kind hatte sich Theo immer unter die Messingmarkierungen gestellt und geprüft, ob sein Kopf inzwischen über die Schicksalslinie reichte. Der Tag, an dem er sich erstmals oberhalb der eingebildeten Wasseroberfläche befand, war ein großer gewesen.
    Jetzt holte er tief Luft und stemmte die Autotür gegen den Sturm, der sogleich wie ein Rudel wütender Hunde an seinem Schal zerrte. Mühsam kämpfte er sich unter den Schutz der Reetdach-Markise und dann ins Innere des Hauses. Auf den abgetretenen Steinfliesen in der Diele sammelten sich Pfützen. Ein Windstoß ließ die Geburtstagskuchenkerzen verlöschen, die links und rechts neben der feierlichen Aufbahrung geflackert hatten.
    Schnell schloss Theo die Tür hinter sich und blickte direkt in ein Paar gewitterschwarze Augen. Theo kannte niemanden, der derart vorwurfsvoll gucken konnte wie Lilly. Dabei war sie erst neun Jahre alt und sah aus wie eine chinesische Porzellanpuppe.
    »Du hast mein Begräbnis ruiniert«, schimpfte das Kind empört und deutete auf einen rosafarbenen Miniatursarg, in dem fein säuberlich eine Barbiepuppe aufgebahrt lag. Ein zerrupftes Kunstblumengebinde schmückte die Plastikleiche.
    »Woran ist die Ärmste denn heute gestorben?« Erfolglos rubbelte sich Theo mit seinem triefenden Schal das Haar.
    »Kindbettfieber«, verkündete Lilly, die eine Vorliebe für exotische Todesursachen hatte. Wenn sie nicht gerade mit ihrer Barbie spielte, schmökerte sie in Theos alten Medizinbüchern, die er aus sentimentalen Gründen in seinem Büro aufbewahrte.
    »Lilly, willst du nicht mal was anderes spielen als Beerdigung?«
    »Was denn, Heiraten vielleicht?« Lilly schnaubte verächtlich.
    Mitunter fragte sich Theo, ob ein Bestattungsinstitut das richtige Umfeld für ein kleines Mädchen war.
    »Deine Tochter entwickelt eine völlig morbide Weltsicht«, hatte er einmal zu May gesagt, die ihm dabei half, die Toten herzurichten.
    »Seltsam ist es ja wohl eher, so zu tun, als sei Sterben irgendwie anstößig«, hatte die junge Halbasiatin nur gefaucht. Da musste ihr Theo zweifellos recht geben. Zu Lillys letztem Geburtstag hatte er ihr darum einen Barbiesarg geschreinert. Es war ein voller Erfolg gewesen.
    Vor fast zwei Jahren hatte Fräulein Huber, die, seit er denken konnte, seinem Vater zur Hand gegangen war, ihren blassgrünen OP-Kittel säuberlich zusammengefaltet. »Des war jetzt meine dreitausendste
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