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Das letzte Einhorn

Das letzte Einhorn

Titel: Das letzte Einhorn
Autoren: Peter S. Beagle
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Zauberer mit den Fäusten.
    »Ich kann es nicht«, erwiderte gelassen der Zauberer. »Aller Zauber dieser Welt kann ihr jetzt nicht mehr helfen. Wenn sie sich ihm nicht stellt, muss sie zu den anderen ins Meer. Weder Mord noch Magie können ihr helfen.«
    Molly hörte winzige Wellen gegen den Sand schwappen, die Flut setzte ein. So sehr sie nach ihnen Ausschau hielt und sie herbeiwünschte: kein Einhorn tummelte sich im Wasser. ›Was, wenn es zu spät ist? Wenn sie mit der letzten Ebbe hinausgezogen worden sind, hinaus aufs weite Meer, dorthin, wohin kein Schiff sich wagt. wegen der Seeschlange und der Kraken, und wegen der schwebenden Wrack-Dschungel, die sogar diese Ungeheuer umschlingen und ertränken. Es wird sie niemals finden! Ob es wohl bei mir bleiben wird?‹
    »Wofür gibt es denn dann Magie?« schrie Prinz Lir wütend. »Wozu gibt es Zauberei, wenn man damit nicht einmal ein Einhorn retten kann?« Er musste sich an des Zauberers Schultern festhalten, um nicht vor Schwäche umzufallen.
    Schmendrick drehte nicht einmal den Kopf. In seiner Stimme lag eine Spur wehmütigen Spotts. als er sagte: »Dafür gibt es Helden.«
    Der Rote Stier verdeckte das Einhorn ganz und gar. Es musste einen Haken geschlagen haben, denn es kam den Strand herauf auf sie zugeflogen. Blind und geduldig wie das Meer folgte ihm der Stier. Seine Hufe gruben tiefe Gräben in den nassen Sand. Rauch und Feuer, Gischt und Sturm, so kamen sie daher, keines gewann an Boden. Prinz Lir gab ein leises, verstehendes Grunzen von sich.
    »Ja, natürlich!« rief er. »Genau dafür gibt es Helden! Zauberer sind ohne Bedeutung, deshalb sagen sie, alles sei ohne Bedeutung; aber Helden sind dafür da, dass sie für Einhörner sterben!« Er ließ Schmendricks Schultern los und lächelte leicht. »In deiner Beweisführung steckt ein grundsätzlicher Trugschluss!« entrüstete sich Schmendrick; doch Prinz Lir sollte nie erfahren, was dieser Trugschluss war.
    Das Einhorn flog an ihnen vorüber, blauweiß floss sein Atem, den Kopf hielt es zu hoch, da sprang Prinz Lir in den Weg des Stieres. Für eine Sekunde verschwand er vollständig, wie eine Feder in einer Flamme verschwindet. Der Stier rannte über ihn hinweg, ließ ihn am Boden liegen. Eine Seite seines Gesichtes schmiegte sich zu tief in den Sand und ein Bein kickte dreimal in die Luft, bis es endlich still lag. Er war ohne einen Schrei gestürzt, und auch Molly und Schmendrick verstummten. Doch das Einhorn machte kehrt. Der Stier verhielt, wendete, um das Einhorn wieder zwischen sich und das Meer zu bringen. Er begann sein geziertes, tänzelndes Treiben von neuem.
    Genauso gut hätte er ein balzender Vogel sein können: reglos stand das Einhorn da und starrte den verkrümmten Körper des Prinzen Lir an.
    Rollend und grollend stampfte die Flut herein, der Strand ward um einen Streifen schmaler. Schaum- und Kammwellen sprühten in die Morgenröte, doch noch immer sah Molly Grue kein anderes Einhorn als das ihre. Der Himmel über dem Schloss färbte sich purpurn, auf dem höchsten der Türme stand König Haggard, schwarz und klar umrissen wie ein Baum im Winter. Molly konnte die Narbe seines Mundes sehen und seine sich dunkel färbenden Fingernägel, die er in die Brüstung krallte. ›Aber das Schloss kann doch nicht fallen, nur Prinz Lir kann es zum Einsturz bringen.‹
    Jäh schrie das Einhorn auf. Ganz anders klang dieser Schrei als das herausfordernde Röhren, mit dem es dem Roten Stier beim ersten Mal entgegengetreten war – ein schriller, gellender Schrei voll Gram und Schmerz und Wut, wie ihn noch kein unsterbliches Wesen ausgestoßen. hatte. Das Schloss bebte, und König Haggard taumelte zurück, einen Arm vors Gesicht geschlagen. Der Rote Stier zögerte, scharrte im Sand und brüllte unschlüssig.
    Wieder schrie das Einhorn auf, bäumte sich wie eine Schlange vor dem Biss. Die köstliche Kontur seines Körpers zwang Molly, ihre Augen zu schließen, doch öffnete sie sie rechtzeitig, um zu sehen, wie das Einhorn den Roten Stier ansprang, und wie der Stier vor diesem Ansturm wich. Das Horn des Einhorns erstrahlte wieder, es leuchtete und zitterte wie ein Schmetterling.
    Wieder griff das Einhorn an, und wieder wich der Rote Stier, schwerfällig vor Bestürzung, aber noch immer flink wie ein Fisch. Seine Hörner waren wie Blitze, die geringste Bewegung seines Kopfes machte das Einhorn straucheln. Doch er wich und wich, stetig strandab, wie zuvor das Einhorn es getan. Es stürzte sich auf ihn, um
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