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Das letzte Einhorn

Das letzte Einhorn

Titel: Das letzte Einhorn
Autoren: Peter S. Beagle
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Dreien vorbei, wie eine Woge, die sich am Felsen bricht und schäumend wieder zusammenschießt. Rings um Molly flutete und blühte ein Licht, das genauso unmöglich war wie feuriger Schnee, und tausend gespaltene Hufe sangen wie Zimbeln vorüber. Sie rührte sich nicht, lachte nicht und weinte nicht, denn die Freude war zu groß, als dass ihr Körper sie hätte begreifen können.
    »Sieh«, rief Schmendrick, »das Schloss fällt!« Sie drehte sich um und sah, wie die Türme zerbröckelten, während die Einhörner das Kliff hinaufjagten und sie umfluteten, als wären die Söller und Zinnen aus Sand gebaut und das Meer glitte über sie hinweg. Das Schloss zerfiel in große, glatte Blöcke, die dünn und wächsern wurden, während sie durch die Luft wirbelten, bis sie zerfiel und verging ohne einen Laut. verschwanden. Es Keine Reste blieben zurück, weder auf dem Lande noch in dem Gedächtnis der beiden, die es fallen sahen. Eine Minute später konnten sie sich nicht mehr erinnern, wo es gestanden und wie es ausgesehen hatte.
    König Haggard aber fiel inmitten der Trümmer seines entzauberten Schlosses wie ein Messer, das durch Wolken fällt. Molly hörte ihn auflachen, als hätte er es nicht anders erwartet. König Haggard war kaum zu überraschen.

 
    Als das Meer dann ihre rautenförmigen Hufspuren verschlungen hatte, wies nichts mehr darauf hin, aß sie je hier gewesen waren, und nichts ließ erkennen, dass es jemals ein Gebilde wie König Haggards Schloss gegeben hatte. Molly Grue erinnerte sich jedoch sehr genau an die Einhörner.
    »Wie gut, dass es ohne Abschied gegangen ist«, murmelte sie vor sich hin. »Ich hätte mich doch nur dumm benommen. Sehr bald werde ich mich sowieso dumm benehmen, aber so ist es wirklich besser.« Da glitt wie Sonnenlicht eine Wärme über ihre Wange und in ihr Haar, und sie drehte sich um und legte ihre Arme um den Hals des Einhorns.
    »Oh, du bist ja noch da!« wisperte sie. »Du bist ja noch da!« Sie hätte beinahe etwas Törichtes getan und gefragt: ›Wirst du bleiben?‹, doch das Einhorn entzog sich ihr sehr sanft und ging zu der Stelle, wo Prinz Ur lag. Seine dunkelblauen Augen verloren schon Farbe und Glanz. Das Einhorn stand über ihm, so wie er die Lady Amalthea geschützt hatte.
    »Sie kann ihn zum Leben erwecken«, flüsterte Schmendrick. »Das Horn ist ein Mittel gegen den Tod selbst.« Molly sah ihn durchdringend an, wie sie es seit langem nicht mehr getan, und erkannte, dass er endlich zu seiner Macht und zu sich selber gefunden hatte. Sie vermochte nicht zu sagen, woran sie es sah, denn keine strahlende Glorie umgab ihn, kein Omen zeigte sich ihm zu Ehren, wenigstens nicht in diesem Moment. Er war, wie immer, Schmendrick der Zauberer, und doch sah sie ihn zum ersten Mal.
    Lange stand das Einhorn neben Prinz Lir, bevor es ihn mit seinem Horn berührte. Zwar hatte seine Suche ein gutes Ende genommen, doch lag in seiner Haltung eine große Mattigkeit und in seiner Schönheit eine Trauer, wie Molly sie noch nie gesehen. Er schien ihr, als gälte diese Trauer nicht dem Prinzen, sondern dem unwiederbringlich entschwundenen Mädchen, der Lady Amalthea, welche bis zu ihrem seligen Ende hätte mit dem Prinzen glücklich und zufrieden leben können. Das Einhorn senkte den Kopf, sein Horn glitt über Lirs Brust, so unbeholfen wie ein erster Kuss.
    Er richtete sich blinzelnd und kopfschüttelnd auf, lächelte über etwas, das vor langer Zeit geschehen. »Vater«, sagte er mit atemloser, staunender Stimme, »Vater, ich hatte einen Traum!« Dann sah er das Einhorn; er stand auf, und das Blut auf seinem Gesicht glänzte und floss. »Ich war tot«, sagte er.
    Das Einhorn berührte ihn ein zweites Mal, diesmal über dem Herzen, und dort ließ es sein Horn für eine Weile ruhen. Sie zitterten beide. Prinz Lir streckte seine Hände wie Worte nach ihm aus. Das Einhorn sagte: »Ich habe dich nicht vergessen, ich habe dich nicht vergessen.«
    »Als ich tot war …«, begann Lir, aber es war schon davon. Kein Stein prasselte hinter ihm herab, kein Busch splitterte und brach, als das Einhorn das Kliff hinaufsprang. Leicht wie der Schatten eines Vogels glitt es dahin. Oben angekommen, sah es zurück: einen gespaltenen Huf in der Schwebe, die Sonne auf seinen Flanken, Kopf und Hals so zierlich, zerbrechlich unter der Last des Hornes. Da riefen die Drei klagend und jammernd zu ihm hinauf. Es wandte sich und verschwand. Doch Molly Grue spürte, dass ihre Stimmen sich wie Pfeile in das Einhorn
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