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Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
Autoren: Peter S. Beagle
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beinahe pechschwarz, bis auf einen Fleck gilbenden Silbers, dort, wo der Mond hinter den Wolken dahinzog. Das Einhorn sang leise ein Lied, das ein junges Mädchen vor vielen Jahren in seinem Wald gesungen hatte:

    Katzen und Spatzen in meinem Schuh
    leben eher zusammen als ich und du;
    die Fische kommen zu Fuß aus dem Meer,
    bevor ich erleb deine Wiederkehr.

    Es verstand die Worte nicht, musste aber voller Sehnsucht an seine Heimat denken; es war ihm, als hätte der Herbst die Buchen in seinem Walde zum ersten Mal geschüttelt, als es diese Straße betrat.
    Endlich legte es sich ins kalte Gras und schlief ein. Einhörner sind die scheuesten aller Geschöpfe, ihr Schlaf aber ist tief und fest. Es träumte, daheim zu sein, und aus diesem Traum konnten es nicht einmal das näherkommende Rasseln von Rädern und das Geklingel von Glöckchen reißen, umso weniger, als die Räder mit Lumpen gedämpft und die Glöckchen mit Wolle umwickelt waren. Es war weit fort, weiter, als die leisen Glockentöne reichten; es erwachte nicht.
    Jeder der neun schwarz verhüllten Wagen wurde von einem mageren schwarzen Pferd gezogen, und jeder von ihnen bleckte vergitterte Seiten, wenn der Wind die Vorhänge verschob. Der Wagen an der Spitze wurde von einem vierschrötigen alten Weib gelenkt; auf beiden Seiten trug er in großen Buchstaben die Aufschrift:
    MAMMY FORTUNAS MITTERNACHTSMENAGERIE und darunter stand in kleinerer Schrift: Kreaturen der Nacht, ans Licht gebracht!
    Als der Wagen sich der Stelle näherte, wo das Einhorn lag und schlief, brachte die alte Frau das schwarze Pferd zum Stehen. Auch die anderen Wagen hielten und standen geräuschlos da, während das alte Weib mit einer verblüffend anmutigen Bewegung vom Kutschbock sprang. Sie ging behutsam zu dem Einhorn hinüber und blickte lange zu ihm hinab. Dann sagte sie: »Der Teufel soll mein altes Lederherz holen! Und ich hab gedacht, die gäb’s schon längst nicht mehr!« Ihre Stimme hinterließ in der Luft einen Geschmack von Honig und Schießpulver.
    »Wenn der das wüsste!«, sagte sie, und entblößte kieselige Zähne. »Ich werd’s ihm kaum sagen.« Sie blickte zu den schwarzen Wagen hinüber und schnalzte zweimal mit den Fingern. Die Fahrer des zweiten und des dritten Wagens stiegen ab und kamen herüber. Der eine sah so finster und vierschrötig aus wie sie, der andere war ein großer, hagerer Mann, der eine Miene voll wirrer Entschlossenheit zur Schau trug. Er hatte einen alten schwarzen Mantel an, und seine Augen waren grün.
    »Was siehst du?«, fragte das alte Weib den kleineren Mann. »Rukh, was liegt dort?«
    »Toter Gaul«, antwortete er. »Nein, lebt noch. Der Drache wird sich freuen.« Sein Lachen klang wie das Anreiben von Zündhölzern.
    »Narr!«, sagte Mammy Fortuna. Dann fragte sie den anderen Mann: »Und du, Zauberer, Magier, Wundertäter, was siehst du mit deinem Seherauge?« Sie brach, wie auch der Mann namens Rukh, in ein kreischendes Gelächter aus, das erst aufhörte, als sie sah, dass der hagere Mann immer noch auf das starrte, was vor ihm lag. »Antworte mir, du Scharlatan!«, knurrte sie, doch er drehte nicht einmal den Kopf nach ihr. Das besorgte die Alte für ihn, indem sie sein Kinn mit ihrer krabbenartigen Hand herumzerrte. Vor ihrem bernsteingelben Blick senkte er die Augen.
    »Ein Pferd«, murmelte er. »Eine weiße Stute.«
    Mammy Fortuna sah ihn lange an. »Du bist auch ein Narr, Zauberer«, kicherte sie endlich, »aber ein größerer als Rukh, und gefährlicher. Er lügt aus Habgier, du aber lügst aus Angst. Oder sollte es Freundlichkeit sein?« Der Hagere gab keine Antwort, und Mammy Fortuna lachte vor sich hin.
    »Auch gut«, sagte sie dann. »Es ist also eine weiße Stute. Ich will sie für die Menagerie haben. Der neunte Käfig steht leer.«
    »Ich hol ein Seil«, sagte Rukh und wollte zu den Wagen hinübergehen; die Alte packte ihn am Ärmel und hielt ihn zurück.
    »Das einzige Seil, das sie binden könnte, wäre die Fessel, mit denen die Götter den Fenriswolf gebunden haben. Die bestand aus Bärensehnen, Frauenbart, Katzenmiauen, Vogelspeichel, Fischatem und noch etwas. Jetzt fällt mir’s ein: Gebirgswurzeln. Da wir keins von diesen Dingen haben und auch keine Zwerge, die daraus ein Seil flechten, müssen wir uns mit Eisenstangen behelfen, und mit meinem Bann.« Sie murmelte ein paar krächzende, unheimliche Worte, und ihre Hände webten die Nacht. Als sie ihren Bann gesprochen hatte, lag über dem Einhorn ein Geruch von
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