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Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen

Titel: Das Letzte Einhorn und Zwei Herzen
Autoren: Peter S. Beagle
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Waldnymphe in grauer Vorzeit?«
    »Meine Urgroßmutter fürchtete sich vor großen Tieren«, sagte sein Kamerad. »Sie ritt nicht auf ihm, sondern blieb sitzen, ohne sich zu rühren, und das Einhorn legte seinen Kopf in ihren Schoß und schlief ein. Meine Urgroßmutter hat sich nicht bewegt, bis es wieder aufgewacht ist.«
    »Wie hat es ausgesehen? Plinius beschreibt das Einhorn als ein äußerst wildes Tier, mit dem Kopf eines Rehs, den Füßen eines Elefanten und dem Schwanz eines Bären; im Übrigen soll es einem Pferd ähneln. Es heißt, es habe eine tiefe, bellende Stimme und ein schwarzes Horn, zwei Ellen lang. Und die Chinesen…«
    »Meine Urgroßmutter sagte nur, das Einhorn habe gut gerochen. Sie konnte den Geruch von Tieren auf den Tod nicht ausstehen, nicht einmal den einer Katze oder einer Kuh, ganz zu schweigen von dem eines wilden Tieres, aber den Geruch des Einhorns, den hat sie geliebt. Einmal hat sie sogar geweint, als sie mir davon erzählte; sie war schon eine sehr alte Frau und weinte über alles, was sie an ihre Jugend erinnerte.«
    »Lass uns umkehren und woanders jagen«, sagte plötzlich der jüngere Jäger. Das Einhorn schlüpfte lautlos in ein dichtes Gebüsch, als die Männer ihre Pferde wendeten; es folgte ihnen erst wieder, als sie schon ein gutes Stück voraus waren. Die beiden Männer ritten wortlos dahin, bis sie sich dem Waldrand näherten. Da fragte der zweite Jäger nachdenklich: »Warum sind sie bloß fortgegangen, was meinst du? Wenn es sie überhaupt je gegeben hat?«
    »Was weiß ich! Die Zeiten ändern sich. Glaubst du, das heute sei eine gute Zeit für Einhörner?«
    »Nein, aber ich weiß nicht, ob es überhaupt schon einmal einen Menschen gegeben hat, der dachte, seine Zeit sei für Einhörner die richtige. Und gerade kommt es mir so vor, als hätte ich darüber Geschichten gehört – aber da war ich müde vom Wein oder hab an etwas anderes gedacht. Ach, lassen wir’s. Wenn wir uns beeilen, dann reicht das Licht noch zur Jagd. Komm!«
    Sie brachen aus dem Wald, spornten ihre Pferde zum Galopp und preschten davon. Als sie gerade noch zu sehen waren, schaute der ältere Jäger zurück und rief – grad so, als könne er das Einhorn sehen, das sich im Schatten barg: »Bleib, wo du bist, armes Geschöpf! Diese Welt ist nichts für dich. Bleib in deinem Wald und halte deine Bäume grün und deine Freunde lang am Leben. Hör nicht auf junge Mädchen, denn aus ihnen werden höchstens törichte alte Weiber. Viel Glück!«
    Das Einhorn stand reglos am Waldrand und sagte laut: »Ich bin das letzte Einhorn auf der Welt.« Das waren die ersten Worte, die es seit mehr als hundert Jahren gesprochen hatte.
    ›Wie kann das sein?‹ dachte es. Allein zu leben, ohne je ein anderes Einhorn zu sehen, das hatte ihm nie etwas ausgemacht, denn es war immer überzeugt gewesen, dass es noch mehr von seiner Art gebe, und mehr Gesellschaft braucht ein Einhorn nicht. »Aber wenn alle von uns verschwunden wären, dann könnte ich doch auch nicht mehr da sein: Mir widerfährt, was ihnen widerfährt.«
    Die eigene Stimme erschreckte es, und es wollte laufen, nichts als laufen. Leichtfüßig und leuchtend jagte es die düstren Waldwege entlang, überquerte jäh auftauchende Lichtungen, blendend helle oder schattensanfte, und es war eins mit allem ringsumher, mit den Kräutern, die seine Fesseln streiften, und mit dem blauen und silbrigen Flirren, wenn der Wind die Blätter hob. ›Nie könnte ich das hier verlassen, nie; und wenn ich das allerletzte Einhorn wäre. Hier bin ich zu Hause, weiß, wie jedes Ding ist, wie es riecht und schmeckt. Was könnte ich in der Welt suchen, wenn nicht das, was ich hier schon habe?‹
    Als es die wilde Jagd beendete, stillstand und den Krähen und einem Hähergezeter über sich lauschte, da dachte es: ›Und wenn sie irgendwo in der Ferne alle zusammen umherschweifen und auf mich warten?‹
    Von diesem ersten Augenblick des Zweifels an fand es keine Ruhe mehr. Seitdem es sich zum ersten Mal vorgestellt hatte, seinen Wald zu verlassen, konnte es an keinem Ort sein, ohne sich an einen anderen zu wünschen. Ruhelos und unglücklich trabte es an seinem Teich auf und ab. Entscheidungen fallen Einhörnern schwer. Es sagte ja und es sagte nein, Tag und Nacht, und zum ersten Male fühlte es die Minuten wie Würmer über sich kriechen. ›Ich bleibe hier. Wenn die Menschen eine Zeitlang keine Einhörner gesehen haben, dann bedeutet das noch lange nicht, dass alle Gefährten
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