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Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)

Titel: Das Leben, natürlich: Roman (German Edition)
Autoren: Elizabeth Strout
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aussieht«, sagte Bob, er könne überhaupt keine Ähnlichkeit mit Maine feststellen, und Jim sagte: »Ich auch nicht.«
    Sie überquerten die Grenze nach Massachusetts, wo die Wolken tiefer hingen und die Bäume kümmerlicher waren und die Felder zu beiden Seiten anheimelnd struppig. »Jim. Was für Erinnerungen hast du an ihn?«
    Jim sah ihn an wie von weit weg. »An wen?«
    »Unseren Vater. Der da ist im Himmel.«
    Jim setzte sich so, dass seine Knie zu Bob hinzeigten, nicht mehr von ihm weg. Nach einigen Sekunden sagte er: »Ich weiß noch, dass er mich zum Eisfischen mitgenommen hat. Er hat mir aufgetragen, den kleinen orangen Ball im Auge zu behalten, der in diesem winzigen Wasserloch mitten im Eis schwamm. Wenn der Ball untertaucht, dann hat einer angebissen, sagte er. Es biss nie einer an. Sein Gesicht sehe ich nicht mehr vor mir, aber ich sehe diesen kleinen orangen Ball.«
    »Was noch?«
    »Wenn es im Sommer sehr heiß war, hat er uns manchmal mit dem Gartenschlauch abgespritzt, erinnerst du dich?«
    Bob erinnerte sich nicht.
    »Manchmal hat er gesungen.«
    »Gesungen? Weil er betrunken war?«
    »Guter Gott, nein.« Jim sah zur Decke hoch und schüttelte den Kopf. »Das denken auch nur Puritaner aus Neuengland, dass man zum Singen betrunken sein muss. Nein, Bob, er sang bloß manchmal ganz gern. Home on the Range , solche Sachen.«
    »Hat er uns angeschrien?«
    »Soviel ich weiß, nicht.«
    »Das heißt, er war … Wie war er?«
    »Ich glaube, er war ein bisschen wie du.« Jim sagte es nachdenklich, die Hände zwischen die Knie geklemmt. »Ich meine, so richtig kann ich es natürlich nicht sagen, dazu reichen meine Erinnerungen nicht aus, aber ich habe oft gedacht, diese – diese ganze spezielle Art von, na ja, Goofyhaftigkeit, die du hast, die könnte von ihm sein.« Dann schwieg Jim etliche Minuten, während Bob wartete. Schließlich sagte Jim: »Wenn Pam zurückgekommen wäre und dich gebeten hätte, sie zurückzunehmen – wenn sie dich angefleht hätte – , hättest du’s getan?«
    »Ja. Nicht, dass sie mich je gebeten hat. Aber wart lieber nicht zu lang.«
    »Helen hat eine Mordswut auf mich.«
    »Ja, das hat sie. Eine Mordswut. Was erwartest du?«
    Jim sagte leise: »Falls du das noch nicht wusstest, man verhärtet sich gegen die Menschen, die man verletzt hat. Weil es sonst zu unerträglich wäre. Zu wissen, dass man jemandem so etwas angetan hat. Dass ich jemandem so etwas angetan habe. Also sucht man nach allen möglichen Gründen, um sich irgendwie zu rechtfertigen. Weiß Susan, was passiert ist?«
    »Ich hab es ihr erzählt. Nachdem ich bei Helen war. Ich habe ihr gesagt, dass ich zu dir nach Wilson fahre.«
    »Susan hat Helen nie gemocht.«
    »Sie gibt Helen keine Schuld. Wieso sollte man Helen die Schuld geben?«
    »Ich hab’s versucht. Sie hat bergeweise Geld, weißt du. Von ihrem Vater. Und sie hat immer säuberlich die Hand drauf gehalten, damit es direkt an die Kinder geht. Damit ich nichts davon bekomme, falls sie vor mir stirbt. Sondern alles die Kinder. Ihr Vater hat das so gewollt.« Jim streckte die Beine aus. »Wobei das nicht unüblich ist bei Familienvermögen.«
    »Eben.«
    »Das war’s«, sagte Jim. »Mehr an Vorwürfen gegen Helen konnte ich nicht ausgraben. Dass ich meinen blöden Job in dieser blöden Kanzlei mit diesen blöden Wirtschaftskriminalitätsfällen gehasst habe, ist nicht ihre Schuld. Sie hat mich seit Jahren gedrängt, da wegzugehen, sie wusste, dass es nicht das war, was ich machen wollte. Und ich habe keine Lust, darüber zu reden. Ich glaube, was ihr den Rest gegeben hat, war diese Nacht mit der Lebensberaterin.«
    »Jim. Wenn du noch mehr zu beichten hast, behalte es für dich. Das ist mein Rat an dich, okay?«
    »Was soll ich tun, Bob? Ich habe keine Familie.«
    »Du hast eine Familie«, sagte Bob. »Du hast eine Frau, die dich hasst. Kinder, die stinksauer auf dich sind. Einen Bruder und eine Schwester, die dich wahnsinnig machen. Einen Neffen, mit dem nie viel los war, aber der sich jetzt langsam zu berappeln scheint. So was nennt man Familie.«
    Jim schlief ein, den Kopf so weit nach vorn gekippt, dass er fast auf die Brust hing.

Susan kam aus dem Haus gelaufen, als sie in die Einfahrt einbogen. Sie umarmte Jim mit einer Zärtlichkeit, wie Bob sie ihr gar nicht zugetraut hätte. »Jetzt kommst du erst mal rein«, sagte sie. »Ich schlafe heute auf der Couch, Jim, du bekommst mein Zimmer. Du brauchst eine heiße Dusche, und rasieren musst du dich
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