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Das Leben nach dem Happy End

Das Leben nach dem Happy End

Titel: Das Leben nach dem Happy End
Autoren: Pia Juul
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Wilhelm Tell, als er die Armbrust spannte
und auf seinen Sohn unterm Apfelbaum anlegte.«
    Der Kummer von Belgien , Hugo Claus
    Ich hörte den Lärm draußen sehr wohl, doch ich kümmerte mich nicht groß darum. Ich kam wieder auf die Beine und steuerte auf das Telefon zu, das auf meinem Schreibtisch stand, die Nummer meiner Mutter war eingespeichert, obwohl ich sie unglaublich selten anrief. Dafür wurde ich gewarnt, wenn sie anrief, was ebenso selten geschah. Sie war erstaunt über meinen Anruf, nicht zuletzt, weil es noch so früh war, dass ich sie weckte. »Ist was passiert?«, fragte sie sofort. Und ich geriet ins Stocken. Doch ich beantwortete ihre Frage nicht, ich sagte: »Mama! Du musst mir jetzt Abbys Telefonnummer geben. Ich muss mit ihr reden, es ist sehr wichtig!«
    »Natürlich ist es wichtig«, antwortete sie. »Und zwar schon seit dem Tag, an dem du sie im Stich gelassen hast. Aber warum ausgerechnet jetzt und mitten in der Nacht?«
    »Es ist nicht mitten in der Nacht! Ich bin schon lange wach!«, sagte ich. »Würdest du mir nun bitte die Nummer geben?«
    Ich konnte hören, dass sie noch im Bett lag, um sie herum raschelte die Daunendecke. »Das würde ich lieber nicht«, sagte sie. »Aber ich verspreche dir, dass ich mit ihr telefoniere, wenn ich es absehen kann, und ihr erzähle, dass du angerufen hast. Vielleicht ruft sie dich dann an!«
    »Ja, aber das tut sie doch gerade nicht!«, entgegnete ich verzweifelt.
    »Noch etwas anderes …«, sagte sie und klang, als erwachte sie nun langsam. »Ich habe schon seit einer Woche vor, dich anzurufen, weil jemand anders gern mit dir sprechen möchte.«
    »Wer?«
    »Opa.«
    »Opa möchte mit mir sprechen?« Mein Herz galoppierte, bis ins Ohr hinauf hörte ich es klopfen. »Warum? Ich meine, warum hat er mich dann nicht selbst angerufen?«
    »Er hätte gern, dass du ihn besuchst.«
    »Ja?«, fragte ich. »Und warum hast du eine Woche damit gewartet, mir das zu sagen? Das ist doch wichtig!«
    »Glaubst du wirklich, dass du rüberfahren und ihn besuchen würdest?«, fragte sie.
    »Ja, natürlich! Was glaubst du denn? Ich habe ihn seit Jahren nicht gesehen, natürlich will ich ihn besuchen. Aber warum möchte er jetzt so plötzlich mit mir sprechen?«
    »Er ist krank.« Dann schwieg sie. Und ich schwieg.
    »Bist du noch da?«, fragte sie.
    »Ja«, antwortete ich. »Wie krank ist er, was meinst du?«
    »Er liegt im Krankenhaus in Reading, und er wird sterben.«
    »Wie sterben?« Meine Stimme wurde höher, mein Atem ging schneller, und es läutete an der Tür.
    »Jetzt bekommst du Besuch«, sagte meine Mutter.
    »Nein«, sagte ich.
    »Es läutet an der Tür, das höre ich doch«, sagte sie.
    »Ja. Ich melde mich gleich wieder.« Ich legte auf.
    Opa. Ich starrte auf das Telefon und den Schreibtisch mit meinem Computer. Ich klappte ihn auf und wollte ihn gerade einschalten, als es erneut klingelte.
    Vor der Tür stand ein großer, dunkelhaariger Mann, der sagte, er sei von der Polizei. Hinter ihm kam ein älterer Typ zum Vorschein, beide nickten mir mit betroffenen Mienen zu. Sie wollten gern reinkommen.
    »Ich habe noch nicht mal was übergezogen«, sagte ich und blieb stehen. »Oder gefrühstückt.«
    »Wie wäre es, wenn ich einen Kaffee koche, während Sie sich anziehen?«, fragte der Große. »Oder Tee? Möchten Sie lieber Tee?«
    Ich wies ins Wohnzimmer, auf die Tür zur Küche, selbst ging ich ins Schlafzimmer und schloss die Tür hinter mir. Auf dem Bett lag mein nasses Handtuch. Ich hob es auf. Dann setzte ich mich auf die Bettkante und betrachtete das Telefon, das dort an der Wand hing. Ich wählte die 5, unter der ich meine Mutter gespeichert hatte.
    »Jetzt schon?«, fragte sie.
    »Was ist mit Opa?«, fragte ich.
    »Was soll sein, er ist 96, er hat Magenkrebs, es geht ihm sehr schlecht, aber er würde dich so gern sehen.«
    »Warum hast du mich nicht gleich angerufen? Hättest du es mir überhaupt gesagt, wenn ich dich heute nicht angerufen hätte?«
    »Wer hat eben bei dir geklingelt?«, fragte sie.
    »Mama, er ist kurz davor zu sterben, muss ich mich beeilen? Hast du ihn besucht?«
    »Ich glaube schon, dass du dich beeilen solltest.«
    »Meinst du, man kann ihn anrufen?«
    »Keine Ahnung. Willst du nicht hinfahren?«
    »Ja. Nein. Ich weiß es nicht. Hier ist etwas vorgefallen. Hast du Abby angerufen?«
    »Ich habe es noch nicht einmal geschafft, mich anzuziehen! Ich werde sie später schon noch anrufen! Später! Was ist denn vorgefallen?«
    Mein Blick
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