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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Autoren: Oskar Maria Graf
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lebte sein unzerstörbares eigenes Leben weiter und wirkt heute noch in dieser kochend heißen, verwirrend bunten, schrecklich lärmenden Stadt: Perser und Tataren, Armenier und Kurden, Menschen, die Nachkommen irgendwelcher ausgestorbener Rassen sind, Tscherkessen und Georgier, kaukasische Bergjuden, Türken, Daghestaner und Angehörige kleiner, unbekannter Stämme, die noch die Blutrache ausüben. Sie tragen die unveränderte Tracht ihrer Urväter, ihre Häuserviertel sind im Stil ihrer Herkunft, und ihre Gewohnheiten, Beschäftigungen und religiösen Sitten sind noch wie vor hundert und aberhundert Jahren. Der Jude geht in seinen Tempel und der Mohammedaner in die Moschee.
    Und immer noch treibt der heiße Wind den dicken Steppenstaub in die eingekesselte Stadt. Er bleibt liegen auf den Häusern und Fenstern, auf den exotischen Pflanzen und Straßen und bildet eine kalkfarbige Kruste.
    Mit einem grusinischen Schriftsteller, der vor dem Weltkrieg einige Jahre in München gelebt hatte und sehr gut deutsch sprach, schlenderte ich durch die lauten Straßen und wurde benommen von dem unbeschreiblichen, aber durchaus patriarchalischen Durcheinander. Noch benommener aber machten mich die unablässigen Gedanken an meine Mutter. Ich sah zwar alles und unterhielt mich angeregt, doch die Erinnerung an sie gewann nach und nach eine so unbegreifliche Macht über mich, daß mir zumute war wie einem Menschen, der versunken eine fremdartige Umgebung erlebt und dabei die Empfindung hat, als habe er alles schon einmal gesehen und wisse nur nicht, wo und wann. Ich hatte noch nie so selbstvergessen, so nachhaltig an meine Mutter gedacht. Alles, was mir begegnete, bekam einen Hauch von ihr.
    Wir kamen in die persischen Basare, wo von der elfenbeingeschnitzten Brosche, vom handgestickten Tatarenkäppchen bis zum schönsten kaukasischen Schmuckstück, vom Gebetsteppich bis zum silberverzierten Dolch alle Herrlichkeiten der Handwerkskunst zu haben waren. Man erriet schnell, daß sich der Preis der Ware ganz nach dem Gesicht des Käufers richtete. Hartnäckig und verschlagen wurde gefeilscht.
    War das nicht in Starnberg oder Wolfratshausen, in einem vollgepfropften Kaufladen, wo es Wäscheleinen und fertiges Bettzeug, irdene Töpfe, buntbemalte Kaffeeservice und ganze Speisegarnituren aus Porzellan gab? Stand ich nicht neben meiner Mutter und sah, wie sie Stücke für die Aussteuer meiner Schwester aussuchte oder ein Hochzeitsgeschenk für einen Verwandten kaufte? Jede Tasse klopfte sie ab und jeden Teller, den Leinenballen hob sie und sagte zweifelnd: »Gewicht hat er keins … Das ist ein Unterschied zwischen dem, wo ich mitkriegt hab’!« Bedächtig betrachtete sie noch einmal das Kaffeeservice, schaute auf, lächelte ein wenig und sagte: »Zwölf Mark soll’s kosten? … Sagen wir zehn, ja?«
    Wir durchstreiften die beängstigend engen, sonnenlosen, gleichsam wie ein Labyrinth verzweigten Gassen des grusinischen Viertels mit den schmutzstarrenden Häusern, die kaum einmal ein Fenster zeigten. »Hm«, würde meine Mutter gesagt haben, »wie bei uns! Wie in Farchach! … Genau so vermufft und eng, und jedes Haus steht arschlings an der Straße.«
    Wir erreichten den Fluß, der die Stadt zerteilt. Wie luftige Vogelbauer hingen die hölzernen, anmutig bemalten, terrassenförmig übereinander gebauten Tatarenhäuschen an den steilen Felshängen des anderen Ufers. Schön zum Anschauen wie die putzigen Villen an den Ufern des Starnberger Sees hätte Mutter sie gefunden, aber spielerisch und unsolid.
    Laut und schrill, lustig und hurtig ging es auf dem armenischen Markt, wo alle Völker vertreten waren und jede Sprache gesprochen wurde, zu. Früchteverkäufer mit ihren korbbeladenen Eseln standen da und boten klebrige Trauben und Feigen an; Tataren hielten farbenreiche, handgeknüpfte Teppiche feil; Juden bedrängten uns und redeten ein seltsam klingendes Deutsch; schmutzige Orientalen buken in steinernen Trögen, über einem offenen Feuer, das dünn ausgewalzte, zähe Brot; halbnackte Kinder krochen unter den beladenen Tischen herum; herrenlose Hunde beschnupperten das Fleisch oder die gedörrten, sehr scharf riechenden Fische, und seitab, auf einem trockenen Fleck des besudelten Bodens, hockten Kurden und würfelten unter heftigem Geschrei. Ab und zu kam ein Zug kaukasischer Reiter auf kleinen, zottelhaarigen Pferden, mit hohen Pelzmützen, Dolchen, altertümlichen Flinten und umgeschnürten Patronengürteln an. Er machte Halt und
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