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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Autoren: Oskar Maria Graf
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mischte sich lärmend in das Getriebe. Es roch nach Zwiebeln und Obst, nach Fisch und gebratenem Hammelfleisch, nach Lederzeug und Pferdeurin, nach Menschenschweiß und eingemotteten Pelzen. Und die Sonne brannte schonungslos.
    Sechsundsiebzig Jahre war meine Mutter jetzt alt und noch immer hatte sie ähnliche Märkte in unserem Pfarrdorf oder in den Wallfahrtsorten gern. In ihren Mädchenjahren kamen dorthin noch unheimliche Zigeuner und Wahrsagerinnen, denen sie auswich. Sie trank Met mit den Burschen, und nachher kauften ihr diese ein Lebkuchenherz oder eine porzellanene Nippessache. Und sie wiederum beschenkte sie nach altem Brauch mit Schnaps. Als Mutter brachte sie uns Kindern allerhand Tand mit, und heute bringt sie der Annamarie und den Buben vom Maxl Geschenke …
    »Wollen Sie baden?« fragte mich mein Begleiter unvermittelt.
    »O ja, gern«, erwiderte ich, und wir gingen weiter. Im dampfenden Schwefelbad massierte mich ein muskulöser Türke nach uralter Art und war dabei schweigsam wie bei einer religiösen Zeremonie. Er sprang auf mich und massierte meinen dicken Leib, als sei er ein zäher Teig.
    Als wir ins Freie traten, sahen wir schwatzende Frauen mit tiefschwarzem Haar bunte Wäsche in den heißen Quellen schwenken. »Stalin ist aus Tiflis. Er hat lange hier gelebt«, sagte mein grusinischer Freund.
    »Ja, ich weiß«, sagte ich und schaute auf die waschenden Frauen. Sie wuschen nicht anders als meine Mutter daheim. Ihre Handgriffe waren dieselben.
    Auf einer breiten Straße zog eine Kamelkarawane langsam neben den Autos vorüber. Die bedächtigen, schwerfälligen Tiere sahen gleichmütig drein. Die kurzen Schreie und derben Püffe ihrer Lenker schienen sie nicht zu beachten. Auf den Straßen abgelegener Dörfer in meiner Heimat, dachte ich, trotten die Kühe und Ochsen so dahin.
    Nach dem Nachtmahl im Hotel fuhr ein Teil unserer Gesellschaft mit der Bahn weit in das fruchtbare Land hinaus, um in einer einsamen Gegend ein Weinlesefest der Bergvölker zu besuchen. In der dünn verregneten grauen Frühe hielt der Zug an. Die Station war ein weit auseinandergezogenes Dorf mit niederen Holzhäusern und einigen Ziegelbauten. In den strotzend vollen Obstgärten liefen dicke Schweine und Hühnerrudel umher.
    Nach stundenlanger Autofahrt über weglose, zerklüftete Steppe, vorüber an vielen mit malerischen Teppichen überspannten, zweiräderigen, hohen Ochsengespannen kamen wir endlich tief am Vormittag auf einem struppigen, weiten Platz an, der halbkreisförmig von den nahen, umnebelten Bergen umsäumt war. Nichts als eine einzige altertümliche Kirche in unrussischer Bauart, halb gotisch und halb romanisch im Stil, stand da. Eine zerfallene, abgebröckelte Mauer umgab sie. Wahrscheinlich war innerhalb derselben einmal der Friedhof gewesen. Jetzt hatten unter ihrem mächtigen Torbogen Händler ihre Buden aufgeschlagen, die neben Nützlichem allerhand Tand – geflochtene Bastmatten, Holzschnitzereien, zierlich eingelegte kaukasische Schuhe, buntbemalte Töpfe, Dolche, aber auch fromme Andenken und Amulette – verkauften. Sogar der Schnellphotograph, der seine primitiv gemalten Hintergründe an die Mauer gehängt hatte, fehlte nicht. Auf dem umfänglichen Platz tummelten sich heiter-lärmende Menschen. Da sang einer, und viele fielen ein. Ein Rotgardist spielte auf der Ziehharmonika, Tscherkessen warfen den Dolch in die Erde und tanzten, jemand schoß in die Luft, allmählich sangen alle. Die Körper fingen an, sich zu wiegen, der laute, wilde Tanz wurde allgemein. Er bekam nach und nach etwas von einer hemmungslos lachenden, schreienden, stampfenden Raserei.
    Wir traten in die schmutzige Kirche, die ungemein verwahrlost war, und staunten verblüfft. Auf der einen Seite kauerten Mohammedaner in ihrer typischen Gebetshaltung, und halbvermummte Türkinnen krochen auf dem Pflaster, streichelten die Steine, küßten ein eingelassenes Bild oder schmiegten die Wange an den Zierat der Mauer. Und auf der anderen Seite knieten allem Anschein nach orthodoxe russische Christen, hatten andächtig die Hände gefaltet und sahen inbrünstig flehend zu dem verschnörkelten, schon etwas abgebröckelten Hochaltar empor. Wenn ein Flügel der Tür aufging, drang von draußen das wüste Schreien herein und gab im hohen Gewölbe einen schwingenden Nachhall, der die Beter nicht im mindesten irritierte.
    »Ist das nun eine Moschee oder eine Kirche?« fragten wir unsere Tifliser Begleiter.
    »Es gibt eine Sage«, erklärte
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