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Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Das Leben meiner Mutter (German Edition)

Titel: Das Leben meiner Mutter (German Edition)
Autoren: Oskar Maria Graf
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einer von ihnen, »in der wird behauptet, der Baumeister sei ein Muselmann gewesen, man habe ihn aber seinerzeit gezwungen, den russischen orthodoxen Glauben anzunehmen. Als er mit dem Bauen fertig war, ist er noch einmal hinaufgestiegen und hat die Kuppelhöhe geprüft. Er strauchelte, fiel herab und war tot. Beim Herabstürzen soll er ›Allah‹ gerufen haben. Seither sagen die Muselmänner, er ist einer von den Ihren gewesen. Die Russen glauben nicht daran und behaupten das Gegenteil. Seither betrachten Muselmänner wie Russen die Kirche als die ihrige und besuchen sie – da die einen, hier die anderen – oft und oft. Nun, sollen sie schon! Die Sowjetregierung unterdrückt keine Religion.«
    Wir waren, obgleich der letzte Satz ein wenig unecht geklungen hatte, im ersten Augenblick sprachlos.
    »Eine seltsame Toleranz«, sagte einer von uns.
    »Kommen Sie«, riefen die Tifliser, und wir gingen in die Sakristei. Wir trauten unseren Augen nicht. Ein bösartig keifender, bärtiger Pope in abgewetztem, schmierigem Ornat stand hinter einem schiefen Notenpult. Um ihn standen Männer und Frauen mit neugeborenen Kindern auf dem Arm, die sie taufen lassen wollten. Es waren Kommunisten und Kommunistinnen unter ihnen. Man erkannte sie an den fast zur Uniform gewordenen Lederjacken. Die Tifliser bestätigten dies auch.
    Aber das war noch nicht einmal das Seltsamste. Unglaublich benahm sich der Pope. Auf dem Notenpult lag ein kleines Stück Papier. Darauf hatte er die Namen der Täuflinge der Reihe nach notiert. Er trat watschelnd auf so einen Taufvater oder auf eine Taufmutter zu, legte zwei Finger auf die Stirn des wimmernden Babys, schnitt ihm von seinen kaum sichtbaren Haaren etliche ab, plapperte dabei etwas und ging wieder hinter das Notenpult. Er legte die Haarlocke neben den Namen, zückte ein kleines Stümpchen Bleistift und schrie, streng schimpfend, irgendwelche Worte. »Was schimpft er denn so? Was heißt denn das?« fragten wir die Tifliser.
    »Er sagt den Namen des getauften Kindes und verlangt sieben Rubel. Die meisten wollen nicht so viel geben. Sehn Sie, drei, vier Rubel ziehen sie! Schauen Sie den Popen an! Er gibt nicht nach. Er preßt ihnen die letzten Kopeken ab!« erzählten diese lächelnd. Wirklich, der Pope zankte wie ein ordinäres Weib. Er schüttelte voll Grimm den dicken Kopf und fing langsam an, den Namen mit dem Bleistift durchzustreichen.
    »He! He!! He!!!« meckerte er scharf und zitterte am ganzen Körper vor Wut. Nun endlich holte der Beschimpfte die fehlenden Rubel aus der Tasche. Der Pope beruhigte sich im Nu, murmelte wiederum etwas, unterstrich jetzt den Namen, und die Taufe war gültig.
    Wir schüttelten den Kopf.
    »Ein widerwärtiger Handel! Schauderhaft!« murrten einige von uns. Die Tifliser zuckten nur mit der Achsel und meinten wieder so sonderbar gewohnt, wer sich nicht aufklären lasse, verdiene nichts anderes, als vom Popen betrogen zu werden.
    Auch das war ein Stück vom Leben meiner Mutter. Glaube und Aberglaube wirkten von Kind auf unvermindert in ihr. Hatte nicht einst ihre Mutter, als sie allein daheim war, beschwörenden Zigeunern sämtliche Mieder, silbernen Geschnüre und goldgewirkten Riegelhauben ihrer fünf Töchter gegeben, auf daß sie nur ja nicht Haus und Vieh verfluchten? Glaubte sie – meine Mutter – nicht heute noch, daß dies das einzig Richtige gewesen sei? Sie fürchtete die Zigeuner und sprengte Weihwasser in Stube und Stall, wenn sie auftauchten oder durchs Fenster lugten. Sie zögerte nicht, ihnen zu geben, was sie verlangten, wenn der Vater und die älteren Geschwister sie nicht daran gehindert hätten. Die aufdringlichen Bettelmönche jagten ihr fast eine ähnliche Ehrfurcht ein, und insgeheim gab sie ihnen mehr als genug. Je mehr so ein Kuttenbruder redete, um so freigiebiger wurde sie, und sie bewegte während des Gebens betend die Lippen. Ihr Gesicht bekam dabei einen leidvollen, demütigen Ausdruck. – –
    Draußen vor der Kirchhofsmauer, auf dem weiten Platz, lagerten die zusammengeströmten Stämme. Immer noch kamen Fuhrwerke und Reitertrupps an. In Lauben aus grünem Gezweig, rund um ein qualmendes Feuer, über dem ein brodelnder Kessel hing, hockten die Familien, vom eisgrauen, verwitterten Greis bis zum schreienden Wickelkind. Der unablässige dünne Regen hatte den Boden aufgeweicht und schlammig gemacht, aber das beirrte die schwatzenden, singenden, schmausenden und saufenden Menschen nicht. Sie hatten sich gemüht und geplagt,
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