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Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Titel: Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
Autoren: Auma Obama
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es in meinem Inneren sehr turbulent aus.
    Manche Bücher las ich zuerst auf Englisch, anschließend auf Deutsch. Ich verschlang Heinrich Böll, Günter Grass, Wolfgang Borchert, bewunderte Christa Wolf. Die Protagonisten dieser Autoren fühlten intensiv, und ich fühlte mit ihnen. Stundenlang vertiefte ich mich in meine Bücher, manchmal las ich sogar zwei gleichzeitig, eines vor dem Einschlafen, ein anderes tagsüber.
    Kenia war einst britische Kolonie, 1963 erlangte es seine Unabhängigkeit, und heute sind die Amtssprachen Englisch und Swahili. Dass ich mit dieser deutschen Literatur in Berührung kam, hatte einen Grund: Ausnahmsweise stand an meiner Schule im Jahr 1976 Deutsch als Fremdsprache zur Auswahl. Das Fach war neu, und keine von uns Schülerinnen wusste so recht, was man damit anfangen konnte. Bislang war Französisch die einzige Fremdsprache, die als Abiturfach angeboten wurde, und da die meisten von uns zur Genüge mit ihr beschäftigt waren, meldeten sich nur wenige für den Deutschkurs an. Ich war eine davon. Damit wurde der Grundstein gelegt für meine spätere Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, um im Land meiner Bücherhelden zu studieren.
    Doch schon lange vor der Flucht in die deutsche Literatur stellte ich vieles in Frage und suchte nach einem Weg, mich von den Zwängen unserer Traditionen zu befreien. Meine Familie gehört dem Volk der Luo an, in dem der Mann die unbestrittene Rolle als Oberhaupt innehat.
     
    Die Luo sind eine von über vierzig in Kenia lebenden Ethnien. Sie gehören zur Gruppe der Westniloten, die vor Jahrhunderten aus dem Sudan, aus der Gegend am Weißen Nil, nach Uganda und weiter nach Ostafrika wanderten und sich am Viktoriasee niederließen. Heute erstreckt sich das Gebiet der Luo sprechenden Ethnien über den südlichen Sudan, Äthiopien (Anuak), Norduganda und Ostkongo (Demokratische Republik Kongo, DRC ) sowie über Westkenia bis in den Norden von Tansania. In Kenia sind die Luo das drittgrößte Volk nach den Kikuyu und den Luhya; ingesamt sollen über vier Millionen Menschen ihre Sprache sprechen.
    Ich war in unserer Kernfamilie das einzige Mädchen. Während unser städtisches Leben moderne Züge trug, erlebte ich auf dem Land, bei meinen Großeltern, wo es besonders traditionell zuging, dass die Jungen stets anders behandelt wurden als die Mädchen. Frauen und Mädchen waren laufend mit irgendwelchen Tätigkeiten in Haus und Hof beschäftigt – so schien es mir zumindest –, während die männlichen Familienmitglieder so gut wie gar nichts im Haushalt taten und sich auch nur selten auf dem Hof nützlich machten.
    Ich erinnere mich, dass mein Großvater Onyango nach Luo-Sitte immer gemeinsam mit den Jungen und Männern des Hauses aß, nie mit den Mädchen und Frauen, die getrennt in der Küche speisten. Wir Frauen – dazu gehörten auch Cousinen und Tanten – kochten, servierten bei Tisch, räumten auf und wuschen nach den Mahlzeiten das Geschirr ab, während die Männer und Jungen sich alles bringen ließen. Besonders wurmte es mich, dass mein älterer Bruder diese Aufgabenverteilung mir gegenüber sichtlich genoss. Mehr noch aber störte es mich, dass es den meisten Frauen und Mädchen nichts auszumachen schien, die männlichen Familienmitglieder von A bis Z zu bedienen. Ich wehrte mich heftig gegen das, was ich als Ungleichbehandlung des weiblichen Geschlechts empfand, und versuchte mich nicht unterzuordnen – allerdings ohne großen Erfolg. Ich musste mich fügen.
     
    Jahre später, als ich mich eingehender mit den Traditionen der Luo befasste, erfuhr ich, dass in unserer Ethnie zwar eine ausgeprägte, aber auch ziemlich ausgeglichene Aufteilung der Rollen geherrscht hatte. Die Aufgaben der männlichen Angehörigen konzentrierten sich auf die Viehzucht (in der Regel hüteten sie Rinder), auf schwere körperliche Tätigkeiten in der Landwirtschaft sowie aufs Fischen, den Hüttenbau und das Anfertigen bestimmter Gegenstände. So stellten sie zum Beispiel Musikinstrumente her. Darüber hinaus übernahmen sie Metall- und Tischlerarbeiten, sie flochten Körbe und knüpften Netze für die Fischerei. Zu ihren Tätigkeiten gehörten überdies die Kräuterheilkunde und der Schutz der Gemeinde in Kriegszeiten. Mädchen und Frauen waren zuständig für den Haushalt, sie holten Wasser in Kalebassen, stellten Töpferwaren her, fertigten ebenso wie die Männer Körbe an, verputzten die Hauswände. Ihnen oblag weiterhin die Aussaat auf den Feldern, sie brachten die
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