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Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Titel: Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
Autoren: Auma Obama
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ständig wurde gebetet, was mir fremd war. Mein Vater, wie gesagt, war nicht religiös, und meine Stiefmutter Ruth war eine Jüdin, die ihren Glauben aber nicht praktizierte.
    Jeden Abend vor dem Schlafengehen und jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen mussten wir, dem gekreuzigten Heiland zugewandt, vor unseren Betten niederknien. Beim Zubettgehen achteten die Nonnen peinlich genau darauf, dass unsere Hände sittlich auf der Bettdecke lagen. Warum ihnen das so wichtig war, war mir damals schleierhaft. Von zu Hause war ich es gewohnt, mich immer bis zum Hals zuzudecken. Lagen meine Arme »im Freien«, konnte ich nicht richtig einschlafen.
    Eines Nachts wurde ich von der wachhabenden Nonne mit unter der Decke liegenden Händen ertappt. Verwirrt schreckte ich aus dem Schlaf hoch, als jemand mir diese mit einem Ruck vom Körper riss. Völlig verwirrt sah ich die Schwester vor mir stehen und hörte sie schimpfen, ohne zu begreifen, was ich – in tiefstem Schlaf! – so Schlimmes getan hatte. Erst Jahre später wurde mir klar, dass die Ordensfrauen verhüten wollten, dass wir uns unter der Bettdecke versündigten, indem wir mit gewissen Körperteilen spielten – und das im Alter von sechs, höchstens sieben Jahren! Zum Schluss musste mein Vater meinen häufigen Klagen nachgeben und mich aus der Mary Hill Primary School nehmen.
    Meinem älteren Bruder Abongo erging es nicht viel besser. Auch er besuchte eine erstklassige Internatsschule, die Nairobi School, die mitten in der Hauptstadt lag. Und auch er war dort vermutlich unglücklich und verabscheute das Leben in dieser Bildungsstätte. Doch er äußerte seine Abneigung auf andere Weise. Statt Tränen zu vergießen, brachte er andere Kinder zum Weinen, indem er sich mit ihnen herumprügelte. Mein Vater wurde so oft in seine Schule gerufen, bis er auch in diesem Fall einsah, dass es keinen Zweck hatte, Abongo länger dort zu lassen. So kamen wir beide – damals war ich in der zweiten, mein Bruder in der dritten Klasse – wieder nach Hause und verbrachten unsere restliche Grundschulzeit glücklich als Externe an der Kilimani Primary School. In dieser Zeit brachte meine Stiefmutter Ruth meinen Bruder Opiyo zur Welt.
     
    Das harmonische Familienleben war nicht von langer Dauer. Noch während ich auf die Ergebnisse der Abschlussprüfungen meiner Grundschule wartete, ließen sich mein Vater und Ruth scheiden. Als die Zusage für meinen Platz an der Kenya High School kam, war meine Stiefmutter bereits ausgezogen und hatte meine zwei jüngeren Brüder, Okoth und Opiyo, mitgenommen. Mein dreizehnter Geburtstag stand kurz bevor.
    Die Scheidung meiner Eltern traf mich schwer. Eine große Leere tat sich auf. Zum Glück konnte ich ihr mit dem Eintritt ins Gymnasium ein wenig entfliehen. Die neue Schule sollte sich als ein Segen für mich entpuppen.
    An der Kenya High School schien man, als ich dort eintraf, schon von mir gehört zu haben. Es hieß, ich sei das Mädchen mit der komischen Ausdrucksweise (damals benutzte ich, von meiner Stiefmutter beeinflusst, viele amerikanische Begriffe). Und weil ich ziemlich selbstsicher auftrat, fand man mich anfangs arrogant. Sogar einige ältere Mädchen schauten in unserer Klasse vorbei, um nach der neuen Schülerin zu sehen. Dahinter verbarg sich natürlich die Botschaft: »Achtung, wir haben dich im Auge!« Ich sollte ja nicht glauben, ich könne mich aufführen, als sei ich etwas Besonderes, sondern mich schleunigst in die strenge Hierarchie einfügen, die in der Internatssubkultur herrschte.
    Das Auftreten der Älteren schüchterte mich jedoch nicht ein. Die moderne Erziehung meiner Stiefmutter – sie hatte stets versucht, mir die Dinge ausführlich zu erklären – hatte mich zu einem ziemlich selbstbewussten jungen Mädchen gemacht, das sich von den Großen nicht beeindrucken ließ. Und so lebte ich mich in kürzester Zeit gut in der Kenya High School ein.
     
     
     
     
     

3
     
    Meine Stiefmutter hatte uns verlassen – und ich fiel in ein tiefes Loch. Das Haus war plötzlich still und leer ohne sie, Okoth und Opiyo, und obwohl Ruth uns beim Abschied versichert hatte, dass sie sich nur von unserem Vater getrennt hätte und nicht von uns, wusste ich, dass dies nicht stimmte. Sie hatte sich auch von meinem älteren Bruder und mir getrennt.
    Eine traurige Zeit begann. Doch da meine Verwandtschaft mich schon immer wegen meiner angeblichen Nähe zur Baker-Familie, der Familie meiner Stiefmutter, verspottet hatte, nahm ich mir fest
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