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Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise

Titel: Das Leben kommt immer dazwischen: Stationen einer Reise
Autoren: Auma Obama
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Begegnung mit meiner Mutter fand bei uns zu Hause statt. Sie hatte eine mir unbekannte Verwandte – noch eine – mitgebracht. Ich nahm an, sie fürchtete sich womöglich davor, meinem Vater ohne Beistand gegenüberzutreten. Doch zufällig waren gerade nur mein Bruder und ich im Haus.
    Nachdem wir uns begrüßt hatten, holte meine Mutter eine große silberne Dose aus ihrer Handtasche, die aussah, als sei sie geradewegs von der Fabrik ins Ladenregal gewandert, ohne dass man Zeit gehabt hatte, ihr ein Etikett aufzukleben.
    »Für dich«, sagte sie und reichte mir das Behältnis. Ich nahm das mysteriöse Geschenk entgegen und sah sie fragend an.
    »Für deine Haut«, erklärte sie.
    Ich ging in die Küche und holte mir ein Messer, um, wie bei einer Farbdose, den fest verschlossenen Deckel zu öffnen.
    »Danke«, sagte ich nach einer längeren Pause, als ich wieder bei meiner Mutter im Wohnzimmer war. Die Dose enthielt Vaseline. Plötzlich verspürte ich ein wunderbares Gefühl von Aufgehobensein. Nach dem Fortgang meiner Stiefmutter hatte ich mich vor lauter Wehmut nur noch notdürftig um mein Äußeres gekümmert. Ich hatte mich in eine Art Verweigerungshaltung geflüchtet, um auf diese Weise gleichsam die Zeit zum Stillstand zu bringen – wenn ich sie schon nicht zurückdrehen konnte. Und zugleich hatte ich mir eingeredet, dass ich, je weniger ich mich um mich selbst kümmerte, meine Stiefmutter umso weniger vermissen würde. Damals gab es niemanden mehr, der fragte, ob ich gebadet, mich eingecremt oder mir die Zähne geputzt hätte. Mein Bruder und ich redeten kaum miteinander, und mein Vater verkroch sich in seiner Arbeit und kehrte meist erst spät am Abend heim, wenn ich schon im Bett lag.
    Bei unserem ersten Zusammentreffen war meiner Mutter sicherlich mein ungepflegtes Aussehen und meine trockene, glanzlose Haut aufgefallen. Während ich in ihr zunächst nur eine Fremde sah, betrachtete sie mich von Anfang an mit mütterlich sorgendem Blick. Von nun an brachte sie mir bei jedem Besuch eine Dose Vaseline mit.
    Die Kampagne zur Rückgewinnung meiner Mutter führte mein älterer Bruder voller Überzeugung und Engagement. Ob er damals mit meinem Vater offen darüber sprach, weiß ich nicht. Aber er traf sich häufig mit Verwandten, und einige von ihnen unterstützten ihn tatkräftig und ermunterten ihn, nicht lockerzulassen.
    Ich selbst hielt mich eher zurück und sagte nicht viel zu seinen Bemühungen. Denn obwohl ich meine leibliche Mutter endlich kennengelernt hatte, sehnte ich mich noch immer nach unserer jüngst auseinandergebrochenen Familie zurück. Meine kleinen Brüder, insbesondere Opiyo, vermisste ich entsetzlich. Doch je mehr sich Abongo für die Rückkehr unserer Mutter einsetzte, desto unwahrscheinlicher erschien mir die Möglichkeit, dass meine Stiefmutter und meine kleinen Brüder eines Tages zurückkehren würden.
     
     
     
     
     

4
     
    Das für mein Leben Entscheidende ereignete sich einige Monate, bevor ich auf die Welt kam. Als meine Mutter erfuhr, dass sie zum zweiten Mal schwanger war, stand bereits fest, dass mein Vater zum Studium in die USA gehen würde.
    Eine Gruppe kenianischer Studenten und Studentinnen sollte sich auf den Weg in die Vereinigten Staaten machen, um dort an einer Hochschule ausgebildet zu werden. Die meisten von ihnen erhielten dabei Unterstützung durch ein von Tom Mboya ins Leben gerufenes Stipendienprogramm. Dieses wurde von privaten Förderern finanziert, später unter anderem auch von John F. Kennedy. Der »Auszug der Studenten« in die Vereinigten Staaten, der von 1959 bis 1962 stattfand, ist seither unter dem Begriff »Airlift« bekannt.
     
    Tom Mboya war nicht nur Politiker, sondern auch ein Gewerkschaftsführer. Er setzte sich unermüdlich für die Unabhängigkeit Kenias ein. Seine Vision eines von kolonialer Herrschaft freien Afrikas ließ sich seiner Meinung nach nur mithilfe einer ausreichenden Zahl gut ausgebildeter Afrikaner realisieren. In seinen Augen bedurfte es qualifizierter Kenianer und Kenianerinnen, die nach dem Ende des Kolonialismus – an dem er nie zweifelte – die Führung des Landes übernehmen würden. Doch zur Erlangung dieser Qualifikationen war der Weg ins Ausland unumgänglich. Die jungen Akademiker sollten nach ihrem Studium als hohe Beamte, Diplomaten und Träger des Bildungswesens die Nation in die Unabhängigkeit führen und ihre Selbstregierung gewährleisten.
    Mboya lebte leider nicht lange genug, um die Verwirklichung seiner
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