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Das Leben in 38 Tagen

Das Leben in 38 Tagen

Titel: Das Leben in 38 Tagen
Autoren: Cornelia Scheidecker
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seine Notdurft zu verrichten.
Man spürt, wie die Ansprüche kleiner werden, und das ist gut so!
    In
aller Frühe und noch in der Dunkelheit machten sich Wilfried und sein Kumpel
aus dem Norden auf die Socken. Wilfried hatte vor, jeden Tag an die vierzig
Kilometer zu laufen; ihn würde ich also sicher nicht wiedersehen, aber
vielleicht seinen Begleiter, der ja die Tour zum ersten Mal lief; es schien noch
alles möglich und es war ein gutes Gefühl. Diese Aufbruchstimmung erinnerte mich an die Zeit der Wende. Plötzlich hatte man es in der Hand, sein
Leben selbst zu lenken, einen neuen, viel versprechenden Weg zu gehen,
ungeahnte Ziele zu erreichen...
    Mit
den Taschenlampen in der Hand und dem Gepäck auf dem Rücken winkten sie mir
noch einmal zu und wir tauschten flüsternd unseren Pilgergruß: „Buen camino!“ —
„Macht’s gut, Jungs, und guten Weg!“
    Als
der Morgen graute, verabschiedeten sich auch die anderen Schlafgenossen nach
und nach, nur Martin und ich wollten erst noch einen Kaffee trinken gehen und
so ließen wir auch den zweiten Tag gemächlich anfangen. Nach zwei „Café con
leche“ und ganz frischen Schokocroissants (es sollten die besten des Weges
bleiben) fühlten wir uns stark genug für die Pyrenäenüberquerung! Heute begann
das Abenteuer erst richtig! Neunzehn Kilometer waren es bis Roncesvalles und
noch etwa 600 Meter Höhenunterschied. Wir verließen das kleine Dorf und sahen
steil vor uns die schneebedeckten Bergspitzen. Wie sagte doch der Straßenkehrer
in Michael Endes Buch zu Momo: „Du darfst nie die ganze Straße ansehen, wenn du
noch alles fegen musst, immer nur das kleine Stück, das du gerade machst, dann
wird dir die Anstrengung auch nicht zu viel.“ So stapften wir mutig drauflos
mit unseren neuen Bergwanderschuhen und den schweren Rucksäcken, darauf
bedacht, immer nur das kleine Stück zu sehen, das gerade vor uns lag.
    Die
Temperaturen waren vorfrühlingshaft kühl, die Bäume noch im Wintergrau, nur an
den vorsichtig grünenden Gräsern und Sträuchern sah man, dass es kein Winter
mehr war. Der gelbe Pfeil führte uns wieder hinunter an den Bach und ließ uns
dann steil nach oben steigen, bis wir dessen Quelle erreichten. So schnell
waren wir also an den Ursprung des Wassers gelangt, das in
St.-Jean-Pied-de-Port noch als Fluss die Stadt durchquerte und über dessen
Brücken wir gegangen waren. Der Pfad verwandelte sich im Quellgebiet allerdings
in Morast und ich war froh, meine Stöcke zum Balancieren auf diversen Steinen
dabei zu haben. Martins Beine schienen doch leichter zu sein, denn ich hatte
Mühe, ihm zu folgen und nicht zu fallen. Unterwegs sahen wir nur selten andere
Pilger, einmal einen älteren Engländer und einmal eine Gruppe Jugendlicher, die
uns überholten. Völlig außer Atem versuchte ich bei der ständigen Steigung, den
Anschluss nicht zu verlieren, aber der Ausblick entschädigte für alle Mühen. An
Schneeresten wusch ich mir die Hände, die doch Bekanntschaft mit dem Schlamm
gemacht hatten. In dem weichen Boden sah man verschiedene Tierspuren, wir
vermeinten sogar, Bärenspuren zu erkennen! Dies könnte man sich in dem riesigen
Hochwald schon vorstellen und auf einmal war ich froh, nicht allein zu sein.
    Es
war ganz ruhig, kein Straßenlärm störte die Stille, selbst die Vögel hielten
wohl gerade Mittagschlaf. Wir hatten unwahrscheinliches Glück mit dem Wetter,
denn meistens sollte man hier oben vor lauter Nebel nichts sehen können. Wir
aber sahen die schneebedeckten Gipfel immer näher kommen, bis wir schließlich fast
auf gleicher Höhe waren. Als der Wald sich lichtete, mussten wir nur noch einen
kleinen Hügel überwinden, dann erblickten wir auch schon die Landstraße und
eine kleine Kapelle; wir hatten den Ibañeta-Pass erreicht! Geschafft! Nach fünf
oder sechs Stunden anstrengenden Laufens hatten wir unser erstes großes Ziel
erreicht, wir hatten die Pyrenäen überquert! Stolz und glücklich, völlig
durchgeschwitzt und mit zittrigen Beinen setzten wir uns in kurzen Ärmeln vor
die Kapelle und ließen uns von dem eisigen Wind trocken blasen, bis wir
anfingen zu frieren und die Jacken wieder überzogen. Leider war die Kapelle
geschlossen, was ich sehr schade fand an einem so wichtigen Punkt.
    Gerade
konnten wir sehen, wie ein Reisebus mit spanischem Kennzeichen anhielt und eine
Menge schreiender und tobender Schulkinder entlud. Vorbei war es mit unserer
feierlichen Stimmung! Die Kinder stürzten sich auf die Schneereste und
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