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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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Eierschalen geben Minerale an das Wasser ab, die Blumen brauchen das.«
    Sie blinzelt in die Sonne. »Mir scheint, das Grab hätte auch einen Spritzer nötig.«
    Großpapa liegt in einem Familiengrab mit Großmamas Eltern und ihrem Onkel.
    »Auch ich werde mal hier begraben«, sagt sie.
    »Haben denn da drin so viele Platz?«
    »Weißt du, wir sind aus Staub und werden wieder zu Staub. Erst beim Jüngsten Gericht erhalten wir unsere Körper für das ewige Leben zurück, dann … Oh sieh, da kommt meine liebe Basi Bärtha!«
    Ich muss die gekrümmte alte Frau gottlob nicht küssen. Sobald sie in ein Gespräch vertieft sind, kauere ich mich hinter den Grabstein, klaube das Totenbildchen heraus und drücke es fest in die Erde.
    Nachdem wir vom Friedhof zurück sind, darf ich das lederne Fotoalbum anschauen. Großmama flickt unterdessen ihre grauen Strümpfe. Ich kann es kaum glauben, dass das Mädchen mit den langen Zöpfen Mama sein soll.
    »Und wer ist dieser Bub hier zwischen ihr und den anderen Mädchen?«
    »Das ist Josef.«
    »Josef?«
    »Ja, mein Sohn, dein Onkel.«
    »Ich habe in Visp doch gar keinen Onkel.«
    »Du hast aber einen gehabt, er ist gestorben.«
    »Schon lange?«
    »Ja.«
    »Ist er schon groß gewesen?«
    »Ja.«
    »Warum ist er denn gestorben?«
    »Es ist jetzt Viertel nach zwölf. Geh du mal runter ans Gartentor, bald kommen Tanta Amanda und Bella heim.«
Endlich sind wir zu dritt
    Mamas bordeauxrotes Kostüm hat einen
Dior
-Schlitz und betont ihre Taille sehr schön, sagt Papa. Mama hat es für die Taufe machen lassen, auf der anderen Seite des Rheins, dort sind die Schneider billiger. Sie zeigt es ihren Schwestern, zusammen mit dem neuen Pelzmantel. Sie schlüpfen in den Mantel, drehen sich vor dem Spiegel im Kreis und sind begeistert. Auch ich bekomme einen Pelzmantel. Von Onkel Raoul und Tanta Vroni, er ist ihrer Tochter zu klein geworden. Ich kann es kaum erwarten, bis sie endlich ankommen! Anton stellt sich mit mir ans Fenster. Papa hat ihm gesagt, Onkel Raoul habe ein noch größeres Auto als wir.
    »Ich sehe ja aus wie ein Bär! Und schau, Mama, hier ist der Pelz schon wüst – ich will diesen Mantel nicht!«
    »Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul.«
    Ungeduldig bindet Mama mir die Kordel, an der zwei Pelzbälle hängen, zusammen. »Du kannst nichts als reklamieren, dü bisch oomächtig!« Und weil »oomächtig« undankbar und unerträglich bedeutet, beginne ich zu weinen. Mama geht zurück zu den Verwandten. Ich ziehe den Kinderpelzmantel wieder aus und verstecke das weiße Taufkleidchen des Bruders darunter.
    Am Morgen nach der Taufe bleibt Papa im Bett. »Seid leise!« Es sei ihm übel vom Festen, erklärt Mama, Onkel Raoul ist an seiner Stelle in die Praxis gegangen. Die Verwandten haben gestern viele Geschenke mitgebracht, aber alle bloß für das Bébé. Bis auf Jean. Der hat Mama eine orangefarbene Rose gegeben, die Farbe habe eine besondere Bedeutung, hat er gesagt. Vielleicht bringt mir ja heute jemand etwas mit.
    Wie sie alle zum Apéro kommen, ist niemand mehr leise. Papa setzt sich im Morgenmantel zu ihnen. Sie erheben die Gläser: »auf den Tod dieses Sauhunds!«
    »Wer ist das, Papa?«
    Papa ist in ein Gespräch verwickelt.
    »Stalin, der endlich abgekratzt ist«, erklärt Onkel Valentin.
    Nun diskutieren sogar die Frauen mit. Ich gehe in unser Kinderzimmer und stoße das Bébé in seiner Wiege hin und her. Das neue Brüderlein hat die gleichen braunen Augen wie Mama, und ihre dunklen Locken hat es auch bekommen, und beim Kitzeln verzieht es das Gesicht viel lustiger als andere Bébés! Weinen tut Konrad bloß, wenn er Hunger hat. »Gell Konilein, dir gefällt es bei uns! Du hast ja auch mit deinem Götti mehr Glück als ich mit Onkel Raoul. Onkel Heinrich wird dir zu Weihnachten bestimmt etwas anderes schenken als immer nur Kaffeelöffel! Und klettern tut er auch. Wenn du groß bist, nimmt er dich auf einen Viertausender mit, das hat er schon versprochen.«
    Onkel Heinrich ist ohne die Walliserfrau, die für ihn durch die Hölle geht, zur Taufe gekommen. Mama sagt, man sage, er habe jetzt eine Üsserschwizeri.
    »Es war einmal ein Steinbock, der lebte ganz allein im Wald. Der Wald war steil und dunkel. In dem mit Efeu überwucherten Abhang gab es eine große Höhle …«
    Papa schläft schon wieder an der gleichen Stelle ein wie letztes Mal. Er kann doch nicht müde sein, es ist Morgen! Oder tut er nur so, als ob er schlafen würde? Mein großer Bruder und ich
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