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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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Großmama erzählt das so, als ob sie stolz darauf wäre, als Arme wie eine Reiche zu tun.
    »Weshalb nennst du ihn Papa Hans, er ist doch dein Mann gewesen?«
    »Das auch, aber vor allem der Vater meiner sieben Kinder.«
    Der größte und hübscheste Oberwalliser ist er gewesen und als Advokat und Politiker weitherum bekannt.
    »Bist du denn auch einmal hübsch gewesen, Großmama?«
    »Und ob! Ich habe Zöpfe bis zur Taille gehabt und dicke, kräftige Waden!« Großmama hebt den einen Arm in die Höhe und zeigt, bis wohin sie Großpapa gereicht hat, nur bis zur Achselhöhle. »Ja, ja, ganz Visp hat uns beiden nachgeschaut!« Sie nimmt ein Totenbildchen von ihm aus der Schublade und schenkt es mir. Ich hätte lieber ein farbiges Heiligenbildchen gehabt als dieses strenge fremde Gesicht mit dem schwarzen Schnäuzchen.
    Aus Papa Hans’ Bett beobachte ich, wie sich Großmama auszieht. Sie braucht dafür eine Ewigkeit. Unter den schwarzen Kleidern trägt sie Sachen, die Mama nicht anhat, und die Buttitschiffra ist auch nicht steif. Hängen die Brüste deshalb so herab? Ihre Haut ist weiß wie Käse. Die Kleider legt sie sorgfältig über die Lehne des Betstuhls, das schwarze Halssamtband vor Papa Hans’ Bild auf dem Nachttisch. Dass Großmama einmal ein hübsches Mädchen war, kann ich mir nicht vorstellen.
    »Cheer di um! Nicht einmal Papa Hans hat mich je nackt gesehen.« Großmama streift hastig ihr hellblaues Nachthemd über. Obwohl ich mich vor dem Zubettgehen mit Weihwasser bekreuzigt habe, ist der Teufel noch immer im Schlafzimmer. Wenn ich nämlich nicht sofort aufhöre, mich im großen Spiegel des Wandschranks zu betrachten, »kommt der Teufel heraus und nimmt dich mit in die Hölle, dü hoffärtigs Jungi!«
    Ich lege mich sofort hin und beginne, leise zu pfeifen.
    »Mädchen, die pfeifen, und Hähnen, die krähn, sollte man den Hals umdrehn«, sagt Großmama noch ärgerlicher.
    Nach dem Lichtlöschen frage ich, ob sie mir ein bisschen von früher erzählt.
    »Morgen. Jetzt beten wir!«
    »Lieber Gott, mach, dass ich bald heim kann!« Aber der Heiland sagt, ich sei undankbar, andere Kinder wären froh, sie hätten es so schön wie ich.
    Papa Hans ist an geplatztem Blinddarm gestorben, weil es damals noch kein Penicillin gab. »Mit sieben Kindern, und so viele Schulden«, seufzt Großmama, als wäre gerade wieder damals. Was sie von Papa Hans’ »Bürgschaft für einen Nichtsnutz« erzählt, verstehe ich nicht. Mich interessiert die Geschichte von Paris sowieso weit mehr. Bloß um dort zu frühstücken, ist er mit ein paar Freunden nach einem Fest in den Zug gestiegen …
    »Und dann?«
    Großmama ist schon wieder im Spital: »Vierzig Tage und vierzig Nächte habe ich an seinem Bett gewacht, zur Beerdigung konnte ich schon gar nicht mehr gehen …«
    Großmamas Lippen werden zu einem Strich, auf der Seite hat sie tiefe Falten, die graben sich bis zum Kinn. Gottlob wird ihr Gesicht jetzt wieder heiterer. »Solange meine wunderbare Mama noch gelebt hat, ja, da haben wir es gut gehabt.«
    Aber Geld sei sowieso weniger wichtig als der innere Reichtum. Zum inneren Reichtum von Großmama gehört ihre Herkunft. In ihren Adern fließt blaues Blut. Das sieht man an ihrem kleinen Finger, den sie abspreizt, wenn sie eine Tasse oder ein Glas in den Händen hält. Das Gegenteil von Adel ist Geldadel. Mit solchen Leuten will Großmama nichts zu tun haben. »Die Nouveaux-riches haben kein Savoir-vivre!«
    »Was heißt das?«
    »Das wirst du verstehen, wenn du größer bist.«
    »Warum heiratest du nicht meinen Großpapa? Der ist auch allein.«
    Kein Mensch auf der Welt kann Papa Hans’ Platz einnehmen, sagt sie, »Treue geht weit übers Grab hinaus«, das solle ich mir merken.
    Tanta Isabella und Tanta Amanda arbeiten in der Lonza. Zum Mittagessen kommen sie heim, erzählen, was sie gemacht haben, dann gehen sie wieder. Ich möchte einmal kein Bürofräulein werden. Lieber eine Lehrerin. Aber die Tanten sagen, bloß das nicht!
    »Männer heiraten keine Lehrerinnen. Die meinen, sie wüssten alles und kommandieren nur herum. Du willst doch keine alte Jungfer werden wie die Anna?!«
    Tanta Anna ist die einzige Lehrerin in unserer Verwandtschaft, sie ist eine Schwester von Großpapa Hans. Wir fahren mit dem Zug nach Raron, um sie zu besuchen. Großmama kommt nicht mit.
    Tanta Anna drückt mich an ihre riesigen weichen Brüste, am Kinn hat sie eine wüste Warze. Ihre Schwestern sind steinalt und ganz knochig. Sie tragen lange
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