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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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schlanker als Papa, seine Brille hat dicke Gläser mit einem breiten braunen Rand. Kaum ist er zuhause, tauscht er den Kittel mit seinem Wollgilet aus. Großpapa trägt unter seiner gestreiften Weste weiße Hemden mit Krawatte. Am Knopfloch seines Gilets ist eine goldene Kette, daran ist eine Uhr befestigt. Wenn sie Großpapa aus der kleinen Seitentasche nimmt und unter den runden Deckel schaut, ist es Zeit zum Essen. Bei Tisch frage ich Onkel Arthur, ob er lieber der Doktor oder der Asket ist. Großpapa setzt sein Besteck ab, ein Asket, erklärt er, sei einer, der Gott vor Augen habe.
    »Wirklich? Hast du Gott auch vor Augen, Großpapa?«
    Mamas Blick rügt mich.
    »Sind Sie bedient?« fragen meine Tanten ihren Papa.
    »Du, Großpapa, was ist eigentlich ein Asket?«
    Ich soll endlich still sein und fertig essen.
    »Nicht wahr, Großpapa«, sagt Anton, »unser Papst heißt Pius der Zwölfte …«
    »Und weißt du auch, wie der Bischof von Sitten heißt?«
    »Matthäus Schiner.«
    Antons Antwort ist falsch. Trotzdem lächelt Großpapa. »Der war sogar Kardinal, aber das ist ein paar Jahrhunderte her.« Nach dem Kaffee steht Großpapa auf, um sich in seinen Polstersessel neben der Leselampe zu setzen. Erst jetzt darf Alpha ins Zimmer kommen. Sobald Großpapa sie krault, legt Alpha sich mit ihrer langen Schnauze und dem buschigen Schwanz zu Boden und macht Platz. Weil Hunde jedes Jahr sieben Jahre älter werden, ist Alpha uralt. Wenn sie stirbt, wird Tanta Bethli Großpapa sofort eine neue Alpha schenken. »Bethli ist hundeverrückt«, sagt Mama.
    Meine Tanten und Mama bleiben nach dem Essen in der Küche sitzen, obwohl das Geschirr gewaschen, abgetrocknet und versorgt ist. Ich bleibe auch lieber hier, bei den Mannen ist es langweilig.
    »Ist der Herr Escher ein Bischof?«
    »Nein«, sagt Mama, »aber du solltest dir wirklich abgewöhnen, immer dreinzureden, hör zu, was Tanta Helen erzählt. Die Tochter von Bundesrat Escher ist ihre Freundin …«
    »Ich muss dringend aufs Cabinet!« Ungeduldig ziehe ich an Mamas Ärmel.
    »Schpil nit z Bébé, dü bisch doch en grossi Meitja!«
    Obwohl ich die Küchentür offen lasse, reicht das Licht im Korridor nicht bis zur hohen Uhr. Im Halbdunkel steht sie da wie ein Mann mit bösen, blitzenden Augen. Die letzten Schritte laufe ich. Das Pipi ist schon in der Hose …
    Onkel Arthur macht mit den Tanten und Mama in Papas Wagen eine Probefahrt. Als sie endlich zurückkommen, geht Papa ihnen entgegen. »Nicht wahr, es ist ein tolles Auto!«
    »Ein tolles Auto gewesen«, antwortet der Onkel. Er hat bei der Bahnhofsunterführung die Kurve nicht erwischt und ist in die Mauer gefahren. Papa regt sich furchtbar auf, Mama schickt meinen Bruder und mich sofort ins Bett. Später bringt sie mir die Hustentropfen, die sie in Onkel Arthurs Praxis geholt haben, »noch vor dem Unfall«, sagt sie, und auch: »Alles ist halb so schlimm, wir lachen schon wieder!«
    Großpapas Schlafzimmer ist ein Tabu. Einzig meine Tanten betreten es, um am Morgen sein Bett zu machen und es am Abend wieder aufzudecken. Schläft Großpapa wirklich in einem Nachthemd? Kaum haben die Erwachsenen zu jassen begonnen, schleiche ich mich ins Zimmer. Das Hemd ist weiß, hat einen blau geränderten Kragen, lange Ärmel – und ist riesig, darin hätte der dicke Garagist aus Stein Platz! Im Schrank sind dunkle Anzüge, die alle gleich aussehen, an einer Schnur hängen ein paar Krawatten, aber Papa hat viel schönere. Unter einer Decke auf dem Stuhl liegt eine leere Wärmflasche. Ich fülle sie am Lavabo mit warmem Wasser und lege sie Großpapa ins Bett. Irgendwo auf der Welt gibt es eine Marienstatue, aus der echtes Blut tropft. Deshalb graust es mir vor dem Bild neben dem Holzkreuz. Diese Wunde vom Heiland … Ich traue mich nicht, sie mit dem Finger zu berühren. Auf Großpapas Nachttischchen ist meine Großmama. Das gleiche Foto, aber viel größer und schwarz gerahmt, entdecke ich im Salon. Hier herein kommt niemand mehr, seit sie gestorben ist. Das ist lange her. Tanta Bethli ist noch ein Mädchen gewesen. Großmama sitzt auf einem Stuhl, ihr Kleid ist bodenlang, in den Händen hält sie einen Stickrahmen. Auf dem zweiten Bild, das zwischen den Fenstern hängt, spielt Großmama Klavier. Sie ist schön und talentiert gewesen, »eine wunderbare Frau, eine Künstlerin!« Großpapa hat sie noch immer so fest gern, dass wir nicht von ihr sprechen sollen. Wahrscheinlich redet er jeden Tag in der Frühmesse mit ihr und braucht
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