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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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dunkle Kleider, die weißen Kopftücher haben sie unter dem Kinn zusammengeknüpft. Auch sie sind ledig, Lehrerinnen aber sind sie nicht. Ich muss sie küssen, ich würde lieber nicht, sie haben Haare im Gesicht. Die Wirtschaft ist an eine hohe Mauer gebaut, der Eingang ist etwas unheimlich und führt direkt in eine niedrige Küche. Sie hat kein Fenster, nur zwei Türen. Es riecht seltsam.
    In der Wirtshausstube ist rundum alles aus Holz. Auf dem Klavier in der Ecke sind Gläser, Aschenbecher und Bierdeckel. Nachdem Tanta Anna Platten voll Fleisch und Käse hereingebracht hat, setzt sie sich zu uns an den Tisch. Die dünnen Frauen sind weg. »Los, kleine Mamsell, halt deinen Teller hin!« Tanta Amanda erzählt, wie ihre Schwester hier früher für die Herren vom Militär Klavier gespielt und dazu gesungen hat. »So hat deine Tanta Lisette den Onkel Lorenz kennengelernt …«
    »Jaja«, Tanta Anna schnalzt mit der Zunge, »einer mit Doktertitel und erscht no en Oberscht – ganz, wie vaner Müeter gwinscht!«
    Tanta Anna wischt sich mit dem Handrücken den Mund sauber. Wenn sie lacht, fehlt ihr hinten ein Zahn. Meine beiden hübschen jungen Tanten sind sehr nett zu ihr, damit sie nicht merkt, wie sie über Lehrerinnen denken.
    »Heschs gääru?«
    »Oh ja, Tanta Anna. Doch ich möchte lieber nicht mehr.«
    »Äch was, dü müesch ässu, suscht wirsch nit groß und dick, z Walliserfleisch isch z beschta fer z Blüet.«
    Sie nimmt das Brot an ihre Brüste und beginnt zu schneiden … Vergeblich blicke ich zu Tanta Isabella und Tanta Amanda. Meine Tanten schlagen vor, mir den Burghügel zu zeigen. Dort suchen sie Rilkes Grab. Ich frage, was auf dem Grabstein steht. »So Dichterzeug mit Rosen …«
    »Ich weiß, wer Rilke ist, er heißt Rainer Maria«, verkünde ich meinen Tanten. Weil sie nicht zuhören, sage ich noch: »Papa kann viele Rilkegedichte.« Aber sie bleiben in ihr Gespräch vertieft.
    »Und«, fragt Großmama beim Nachtessen, »hat sie euch wieder gegen mich aufgestachelt?« Großmamas Lippen werden schmal. Und noch schmaler. Die Tanten wollen ins Kino. Sie müssen ihr den Titel sagen.
    »Die missbrauchten Liebesbriefe.«
    »So beeilt euch wenigstens, sonst verpasst ihr noch die Wochenschau!«
    Im Bett erzählt mir Großmama aus der Zeit, als die Engländer in die Hotels ihrer Eltern kamen. Sie brachten bis zum Kriegsausbruch viel, viel Geld nach Saas-Fee, ließen sich in der Sänfte herumtragen und leisteten sich mehr, als sie brauchten. »Auch meine Großmama aus Naters haben sie in einer Sänfte auf die Belalp getragen.«
    »Ja, ja, die Cécile, Gott hab sie selig.«
    »Hat sie gleich geheißen wie du?«
    »Ja, und ihr Mann und dein Großpapa Hans sind politische Feinde gewesen. Er ist …«
    »Bitte, Großmama, erzähl mir noch ein bisschen mehr von eurem Hotel.«
    »Also«, sagt sie, »an Geld hat es nicht gemangelt.« Brauchte eine von Großmamas Schwestern Nachschub, leerte sie abends die Kasse in eine Serviette, band sie zusammen – »et voilà.«
    »Ist das die Schwester gewesen, die verrückt ist?«
    Großmama blickt zu mir herüber, als hätte ich ihre Hochzeitsvase zerschlagen. »Wer hat dir so etwas gesagt? Zuck nicht bloß mit den Schultern! Wer erzählt so etwas?«
    »Ist es denn nicht wahr, dass sie mal im Irrenhaus gewesen ist?«
    »Es geht nicht darum, ob es wahr ist oder nicht, es ist …«
    »Ist es ein Tabu?«
    »Was weißt du schon, was ein Tabu ist!«
    »Das ist etwas, in das man nicht hineingehen darf. Großpapas Salon ist ein Tabu und sein Schlafzimmer und die Dinge, die die Erwachsenen im Kino sehen und nachts im Bett machen …«
    Großmama löscht das Licht. Ich höre nur noch ihren Atem.
    »Du, was machen die Erwachsenen denn eigentlich im Bett?« »Ich bin am beten, und du solltest jetzt auch beten, es ist spät.« Als Großmama nach dem Frühstück zum Pösteler hinuntergeht, laufe ich ins Schlafzimmer, ziehe unter der Matratze das Totenbildchen hervor und werfe es in die Toilette. Doch es geht auch beim zweiten Spülen nicht hinunter – schon höre ich Großmama in die Wohnung kommen.
    »Hallo, wo bist du?«
    »Auf dem Cabinet, ich habe Durchfall.«
    »So lass mich mal rein, ich helfe dir.«
    »Nein, nein, ich bin sofort fertig!« Blitzschnell nehme ich Papa Hans aus dem Wasser und stopfe ihn in meine Unterhose.
    Großmama gießt auf dem Balkon ihre Geranien.
    »Weshalb hast du all diese Eierschalen in deiner Kanne? Mama wirft die in den Kehricht.«
    »Bist du sicher?
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