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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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sicher nicht. Er tut nur so, weil er den Witz auch nicht verstanden hat. Aber ich finde ihn lustig.
    »So, Kinder, erzählt Papa endlich, was Max und Moritz alles angestellt haben!« Mama langt mit ihrer rechten Hand rasch an Papas Kinn, doch Papa nickt gleich wieder ein.
    »Alle Mädchen aus gutem Hause haben ein Silberbesteck, wenn du groß bist, wirst du daran Freude haben«, sagt Mama. »Aber wenn ich groß bin, werde ich ganz sicher keine gestrickten Strümpfe mehr tragen, die kratzen schaurig! Und das Gschtältli hasse ich auch!«
    Mama befestigt mir den zweiten Strumpf am Bändel, sie blickt mich ärgerlich an: »Die kratzen bloß, weil du dir das einbildest!«
    »Mach nit so es beschs Gsicht«, sagt Mama auf dem Spaziergang ins Dorf. Aber ich will kein anderes Gesicht machen. Vor der Molkerei redet sie endlos mit einer Frau. Ich ziehe an Mamas Ärmel. Die Frau hat riesige Nasenlöcher.
    »Kann dieses Mädchen überhaupt lachen?«
    Mama seufzt absichtlich laut. »Äs pofft wider emal.«
    »Und was passt der Kleinen heute nicht«, fragt die Frau, während sie mir zuzwinkert. Zu der werde ich kein Wort sagen.
    Auf dem Heimweg ist Mama traurig, weil sie ein Kind hat, für das sie sich schämen muss. »Nimm dir ein Beispiel an Konrad, siehst du, der lacht immer, den haben alle gern!« Sie bückt sich über Konis Kinderwagen: »Guli guli gugus, guli guli!«
    »Lieber Heiland«, bete ich vor dem Einschlafen, »tu etwas, dass ich lieber werde.«
    Der Garagist ist am Wochenende in Genf gewesen. Er hat am Autosalon etwas für Mama gesehen, das Papa begeistert. Er muss Anton genau erzählen, wie das Auto aussieht, wie schnell es fahren kann, und Papa sagt auch, »damit ist Parkieren nicht mal für Frauen ein Problem.«
    Mama lacht nicht.
    »Ein Messerschmitt! Sicher fahre ich nicht auf drei Rädern herum, dann noch lieber auf einem Velo …«
    »… das du Gertrud geschenkt hast.«
    »Sie kann es an ihrer neuen Stelle besser brauchen als ich.«
    »Kommt Gertrud denn nicht mit uns, Mama?«
    »Wir werden schon wieder eine Gertrud finden.«
    »Aber wieder eine mit langen Haaren, und Märchen muss sie auch erzählen können, und so feine Brotrösti machen mit …« »Sei mal endlich still!«
    Papa zeigt Mama Prospekte. Alle finden wir das Auto lustig, bloß sie nicht.

II
    Papa hat die Schweiz nach Orten abgesucht, wo es noch keine Zahnärzte gibt. Deshalb wohnen wir nun in Zuchwil. Der Block ist neu und schneeweiß, den ersten Stock haben wir ganz für uns, und im Garten gibt es eine Schaukel. Unter Papas Praxis arbeitet ein Doktor, den er von der Uni her kennt. Mir sagt er im Treppenhaus »hallo, Schätzchen«, er gleicht dem Filmstar, den Tina ausgeschnitten und aufgehängt hat. Seine Frau arbeitet bei ihm als Empfangsfräulein und ist fast so hübsch wie Mama, aber ein bisschen dick. Sie mag Mama nicht besonders, hat Mama mir gesagt, deshalb laufe ich immer ganz schnell an ihr vorbei, manchmal sogar ohne sie zu grüßen. Mit Herrn Seidel, dem Schauspieler, der im Parterre wohnt, duzen sich Mama und Papa auch. So schöne hellblaue Augen wie der hat, habe ich noch nie gesehen. Seine Haare sind immer nass und nach hinten gekämmt. Weil er meist nur abends arbeitet, kann er schlafen, so lange er will. Gestern habe ich bei ihm geläutet. Er hat in der Unterhose zum Türspalt herausgeschaut, hinter ihm war es stockdunkel. Ich musste versprechen, ihn nie mehr vor Mittag zu wecken.
    Aus unserer Wohnung kann ich hinaus- und drüben gleich wieder in die Praxis hineingehen. Im Zimmer ganz hinten im Gang schläft Tina. In ihrer freien Zeit schaut sie sich Hefte mit Filmstars an. Sie ist schon einmal in Rom gewesen. Da hat sie die Lollo, die eigentlich Gerda heißt, mit eigenen Augen fast zum Berühren nahe gesehen. Aber den Marcello Mastroianni über ihrem Bett, den hat sie noch nie lebendig gesehen. Sie möchte gerne einmal einen wie ihn zum Mann haben, Hauptsache »un italiano«. Ich sehe Anton heimkommen und öffne das Fenster. »Hallo Anton, ich bin hier bei Tina!«
    Der große Nachbarbub aus der vierten Klasse geht neben ihm. Er ist das Kind von Arbeitern und sagt zu Mama und Papa nicht Frau Doktor und Herr Doktor. Aber Anton findet, sonst sei er nett.
    »Aanton!«
    »Abbassa la voce! Psst.«
    Ich darf wegen Papas Patienten nicht laut sein, sonst klopft das Praxisfräulein an die Wand. Bald werde ich so gut Italienisch können wie Mama und Papa, Kinder lernen das über Nacht, sagen die Großen. Ich kann schon »buon giorno,
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