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Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen

Titel: Das Leben der Eltern ist das Buch, in dem die Kinder lesen
Autoren: Gisela Rudolf
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stehen Mädchen in hübschen Kleidchen und starren uns an.
    »Weiter im Takt bis zur fünften Position«, sagt die Tanzlehrerin zu den Tänzerinnen und kommt uns begrüßen. Sie zeigt mir, wie ich die Bändel meiner weißen Ballettschuhe um die Knöchel binden soll.
    »Machs gut, Schazzji!« Mama geht in die obere Stadt Kaffee trinken.
    Die Ferien verbringen wir mit Mama in einem Häuschen in Gunten. Vom Garten aus kommen wir über einen kleinen Kiesweg direkt an den Thunersee. Aber Mama mag Wasser nicht besonders, »ich bin halt eine Tennisspielerin.« Sie hat Tina einen Badeanzug gegeben, damit sie uns im See überwacht. Anton kann unter Wasser bis zum Schiffssteg schwimmen, ich schaffe es erst mit dem Schwimmring. Morgen werde ich es ohne Ring versuchen!
    Doch über Nacht ist es kühl geworden. Beim Frühstück beginnt es zu regnen. Mama fährt zum Einkaufen nach Thun, wo sie mit jemandem verabredet ist. Tina strickt am Schal weiter, mit dem sie ihre Nonna zum Geburtstag überrascht. In den Abruzzen sind die Winter sehr kalt und die Häuser schlecht geheizt. »Im Sommer jedoch«, schwärmt Tina, »in estate è incredibilmente bello!« Beim Stricken hat sie die eine Stricknadel unter dem Arm, das macht man in Italien so, sagt sie.
    »Lehrst du mich das auch?«
    »No, mi dispiace«, es tut ihr leid, sie hat keine Zeit, das Geschenk muss morgen auf die Post.
    Koni spielt am Boden mit Holzklötzchen. Sobald er einen Turm zustande gebracht hat, zerstört er ihn wieder.
    »Kipp ihn doch nicht immer wieder um!«
    Jetzt tut er es erst recht.
    »Anton, machst du mit mir ein Hütchenspiel?«
    Der schaut nicht einmal auf von seinem blöden Micky Maus-Heft.
    »Hier ist es langweilig. Wenn uns Papa nächstes Wochenende besucht, möchte ich mit ihm heimgehen!«
    Das verkünde ich Mama gleich bei ihrer Rückkehr. Sie reagiert verstimmt und erinnert mich an den Schiffsausflug.
    Anton und ich haben großen Spaß auf dem Schiff. Nachdem wir unsere Bierdeckel aufgebraucht haben, werfen wir vom unteren Deck aus zerrissene Papierservietten ins schäumende Wasser.
    »Hört mit dem Unsinn auf!«
    Ein Mann in Uniform rüttelt an Antons Schulter und schaut ihn böse an. Sobald er verschwunden ist, machen wir weiter – bis er plötzlich wieder dasteht. Obwohl wir uns entschuldigen, müssen wir mit ihm zu Mama gehen. Statt uns zu schelten, bittet sie den Schiffsmann, ihr den kürzesten Weg zu einer Toilette zu zeigen. Koni hat sich über ihr Sommerkleid erbrochen. Mit dem Kleinen auf dem Arm folgt sie dem Mann. Tina singt mit uns »vola, colomba bianca, vola, dille, che non sarà più sola e che mai più la lascerò«.
    Papa kommt am Wochenende nicht nach Gunten. Er muss arbeiten. Am Sonntag telefoniert Mama noch vor dem Frühstück mit ihm. Kaum hat sie aufgehängt, beginnt sie mit Tina zu packen.
    Nelli ist nicht mehr unser Empfangsfräulein. Sie ist jetzt in Wien und wird Schauspielerin. Bis Papa wieder jemanden hat, hilft ihm Mama in der Praxis. In ihrem weißen Berufsmantel mit dem Stehkragen sieht sie auch wie eine Zahnärztin aus.
    Nellis Eltern sind für Konrad nun »das Tanti« und »der Onggi«. Er ist gerne bei ihnen, wenn Mama und Papa fort gehen.
    Das alte Mehrfamilienhaus steht hinter Kastanienbäumen in der Nähe der Aare. Die Bäume sind so mächtig, dass die Sonne die Wohnung nie erreicht, im Stübchen ist sogar tagsüber das Licht an. Die Holztreppe knarrt noch lauter als unsere in Stein-Säckingen, Koni versucht, das Geräusch nachzumachen. Im obersten Stock wohnen nur Schmids, und wenn man in die Wohnung geht, kommt man gleich in die Küche. Auf dem Tisch steht ein Gugelhopf, der wunderbar riecht. Konrad steigt sofort auf einen Schemel und klaubt sich mit beiden Händchen ein Stück heraus. Tanti hat ihre Freude an ihm: »Er hat Süßes soo gern!« Sie solle ihn nicht zu sehr verwöhnen, mahnt Mama Frau Schmid im Spaß. Als wir uns verabschieden, ist Koni bis hinter die Ohren mit Schoggi verschmiert, er kniet noch immer auf dem Taburett und winkt.
    Im Halbdunkel des Treppenhauses stapft uns jemand entgegen. Es ist Herr Schmid mit seinem zerfurchten kugelrunden Gesicht. Nachdem er Mama begrüßt hat, bückt er sich zu mir: »Dein Brüderchen ist für uns der Sonnenschein, aber auch du bist ein Sonnenschein!« Er möchte von Mama wissen, was Papa von den Atombomben hält, »die Amerikaner testen ja …«
    Mama schneidet ihm das Wort ab. Es pressiert ihr.
    »Mama, warum hat er ein Überkleid an?«
    Sie bedeutet mir zu
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