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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
Autoren: Nina George
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brennenden Augen.
    Monsieur Perdu schluckte und schluckte noch einmal, um die Tränen niederzuringen. Sein Hals war zu eng zum Atmen, und sein Rücken schien zu glühen vor Hitze und Schmerz.
    Als er wieder schlucken konnte, ohne dass es weh tat, stand Monsieur Perdu auf und öffnete die Flügelfenster.
    Aus dem Hinterhof wirbelten Gerüche empor.
    Die Kräuter aus Goldenbergs Gärtchen. Rosmarin, Thymian. Dazu mischten sich die Massageöle von Che, dem blinden Podologen und »Fußflüsterer«. Dazwischen ein Eierkuchenduft, der sich verwirbelte mit Kofis afrikanischen Grilleimergerichten, scharf und fleischig. Darüber schwebte der Junigeruch von Paris, er duftete nach Lindenblüten und Erwartung.
    Aber Monsieur Perdu ließ nicht zu, dass diese Düfte ihn berührten. Er stemmte sich mit aller Macht gegen ihren Zauber. Er war sehr gut darin geworden, alles zu ignorieren, was in ihm auch nur irgendeine Art sehnsüchtiges Gefühl provozieren konnte. Gerüche. Melodien. Die Schönheit der Dinge.
    Aus der Kammer neben der kargen Küche holte er Wasser und grüne Seife und begann, den Holztisch zu säubern.
    Er stemmte sich gegen das verwaschene Bild, wie er an diesem Tisch gesessen hatte, nicht allein, sondern mit ***.
    Er wusch und schrubbte und ignorierte die bohrende Frage, wie es denn nun weitergehen sollte, nachdem er die Tür zu dem Zimmer geöffnet hatte, in dem all seine Liebe, seine Träume und seine Vergangenheit begraben gewesen waren.
    Erinnerungen sind wie Wölfe. Du kannst sie nicht wegsperren und hoffen, dass sie dich ignorieren.
    Monsieur Perdu trug den schmalen Tisch zur Tür, hievte ihn durch die Bücherwand und an den papiernen Zauberbergen entlang ins Treppenhaus bis zur Wohnung gegenüber.
    Als er klopfen wollte, erklang dieser traurige Ton.
    Ein Schluchzen, erstickt, wie hinter einem Kissen.
    Jemand weinte hinter der grünen Wohnungstür.
    Eine Frau. Und sie weinte so, als ob sie sich wünschte, dass sie niemand, niemand hören sollte.

2
    S ie war die Frau von diesem Sie-wissen-schon, diesem Le P.«
    Wusste er nicht. Perdu las keine Pariser Klatschseiten.
    Madame Catherine Le P.-Sie-wissen-schon war an einem späten Donnerstagabend aus der Agentur ihres Künstlermannes, wo sie seine Pressearbeit erledigte, nach Hause gekommen. Ihr Schlüssel passte nicht mehr, ein Koffer im Treppenhaus, darauf die Scheidungspapiere. Ihr Mann war unbekannt verzogen, hatte die alten Möbel und eine neue Frau mitgenommen.
    Catherine-bald-Ex-Frau-von-Le-Mistkerl besaß nichts außer der Kleidung, die sie mit in die Ehe gebracht hatte. Und der Einsicht, dass sie so arglos gewesen war, erstens zu glauben, die einst empfundene Liebe werde über eine Trennung hinaus für menschenfreundlichen Umgang sorgen, und zweitens ihren Mann gut genug zu kennen, um von ihm nicht mehr überrascht zu werden.
    »Ein weitverbreiteter Irrtum«, hatte Madame Bernard, die Hausherrin, zwischen zwei Rauchzeichen aus ihrer Pfeife doziert. »Du lernst deinen Mann erst richtig kennen, wenn er dich verlässt.«
    Monsieur Perdu hatte die aus ihrem eigenen Leben so kaltherzig Ausgeschlossene bisher nicht gesehen.
    Nun lauschte er ihrem einsamen Weinen, das sie verzweifelt zu dämpfen versuchte, vielleicht mit den Händen oder mit einem Küchenhandtuch. Sollte er sich bemerkbar machen und sie in Verlegenheit bringen? Er entschied, erst noch die Vase und den Stuhl zu holen.
    Leise ging er zwischen seiner Wohnung und ihrer hin und her. Er wusste genau, wie verräterisch dieses alte, stolze Haus war, welche Dielen knarrten, welche Wände nachträglich eingezogen und dünn waren und welche verborgenen Mauerschächte wie Lautsprecher wirkten.
    Wenn er sich über sein achtzehntausendteiliges Landkartenpuzzle in dem sonst leeren Wohnzimmer beugte, funkte ihm das Haus das Leben der anderen weiter.
    Wie die Goldenbergs stritten (er: »Kannst du nicht mal …? Warum bist du …? Habe ich nicht …?«; sie: »Immer musst du … Nie machst du … Ich will, dass du …«). Er kannte die beiden noch als jungverheiratetes Paar. Da hatten sie öfter miteinander gelacht. Dann kamen die Kinder, und die Eltern drifteten auseinander wie Kontinente.
    Er hörte, wie Clara Violettes Elektrorollstuhl über Teppichkanten, Dielen und Türschwellen rollte. Er hatte die Pianistin einst fröhlich tanzend gesehen.
    Er hörte Che und den jungen Kofi, die kochten. Che rührte länger in den Töpfen. Der Mann war schon immer blind gewesen, aber er sagte, er sehe die Welt anhand von
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