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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
Autoren: Nina George
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klug und richtig.«
    »Nicht, dass sie dann den Männern zu schlau ist.«
    »Den Dummen bestimmt, Madame. Aber wer will die schon? Ein dummer Mann ist der Ruin jeder Frau.«
    Die Mutter schaute überrascht von ihren ewig knetenden, geröteten Händen auf.
    »Warum hat mir das keiner gesagt, früher?«, fragte sie mit einem kleinen Lächeln.
    »Wissen Sie was?«, sagte Perdu. »Suchen Sie doch ein Buch aus, das Sie Ihrer Tochter zum Geburtstag schenken. Die Apotheke hat heute Rabatttag. Kaufe ein Lexikon und bekomme einen Roman dazu.«
    »Aber meine Mutter wartet draußen auf uns.« Die Frau nahm ihm die Schwindelei gedankenlos ab und seufzte. »Maman will in ein Heim, sagt sie, und dass ich aufhören soll, mich um sie zu kümmern. Aber ich kann nicht. Könnten Sie das?«
    »Ich schau mal nach Ihrer Mutter. Schauen Sie doch nach einem Geschenk, ja?«
    Die Frau gehorchte mit einem dankbaren Lächeln.
    Der Großmama des Mädchens brachte Perdu ein Glas Wasser auf den Quai. Sie traute sich nicht über die Gangway.
    Perdu kannte das Misstrauen der Älteren, er hatte viele Kunden über siebzig, die er an Land beriet, dort auf der Parkbank, auf der die alte Dame nun auch saß. Je weiter das Leben voranschritt, desto vorsichtiger hüteten die Alten die guten Tage. Nichts sollte die Restzeit in Gefahr bringen. Deswegen fuhren sie nicht mehr fort, fällten die alten Bäume vor ihren Häusern, damit die ihnen nicht aufs Dach kippten, und taperten nicht mehr über den Fünf-Millimeter-Stahl einer Gangway über einen Fluss.
    Perdu brachte der Großmutter auch eine magazingroße Büchervorschau, die sie als Fächer gegen die Sommerhitze verwendete. Die Ältere klopfte auffordernd neben sich.
    Sie erinnerte Perdu an seine Mutter Lirabelle. Vielleicht waren es die Augen. Sie schauten wach und verständig. Also setzte er sich. Die Seine glitzerte, der Himmel wölbte sich blau und sommerlich über sie. Von der Place de la Concorde drangen Rauschen und Hupen herab, es gab keinen Moment der Stille. Nach dem vierzehnten Juli würde die Stadt ein wenig leerer werden, wenn sich die Pariser aufmachten, während der Sommerferien die Küsten und Gebirge zu besetzen. Trotzdem wäre die Stadt selbst dann noch laut und hungrig.
    »Machen Sie das auch manchmal?«, fragte die Großmutter plötzlich. »Auf alten Fotos prüfen, ob den Gesichtern der Verstorbenen eine Ahnung anzumerken ist, dass sie bald sterben?«
    Monsieur Perdu schüttelte den Kopf. »Nein.«
    Die Frau öffnete mit bebenden Fingern voll brauner Jahresflecken ihr Halskettenamulett.
    »Hier. Mein Mann. Das war zwei Wochen, bevor er umfiel. Und dann steht man da, als junge Frau, und hat plötzlich ein freies Zimmer.«
    Sie fuhr mit dem Zeigefinger über das Bild ihres Ehemanns, stupste ihm zärtlich an die Nase.
    »Wie gelassen er schaut. Als ob all seine Pläne Wirklichkeit werden könnten. Wir schauen in eine Kamera und denken, es geht alles immer weiter, aber dann … bonjour, Ewigkeit.«
    Sie schwieg. »Ich jedenfalls lasse mich nicht mehr fotografieren«, sagte sie. Sie hielt ihr Gesicht in die Sonne. »Haben Sie ein Buch über das Sterben?«
    »Sogar sehr viele«, sagte Perdu. »Über das Altwerden, über das Unheilbarkrankwerden, über das langsame Sterben, das schnelle, das einsame irgendwo auf dem Boden eines Krankenhauszimmers.«
    »Ich habe mich oft gefragt, warum nicht mehr Bücher übers Leben geschrieben werden. Sterben kann jeder. Aber leben?«
    »Sie haben recht, Madame. Es gäbe so viel über das Leben zu erzählen. Leben mit Büchern, Leben mit Kindern, Leben für Anfänger.«
    »Schreiben Sie doch eins.«
    Als ob ich jemandem einen Rat darüber geben könnte.
    »Ich würde lieber eine Enzyklopädie über Allerweltsgefühle schreiben«, gab er zu. »Von A wie ›Angst vor Anhaltern‹ über F wie ›Frühaufsteherstolz‹ bis Z wie ›Zehenschüchternheit oder die Sorge, dass die Füße die Verliebtheit des anderen sofort vernichten können‹.«
    Perdu fragte sich, warum er das der Fremden erzählte.
    Hätte er doch bloß das Zimmer nicht geöffnet.
    Die Großmutter tätschelte sein Knie. Er zuckte kurz zusammen. Berührungen waren gefährlich.
    »Gefühlsenzyklopädie«, wiederholte sie lächelnd. »Also, das mit den Zehen, das kenne ich. Ein Lexikon der Allerweltsgefühle … Kennen Sie diesen Deutschen, Erich Kästner?«
    Perdu nickte. Kästner hatte 1936, kurz bevor Europa in schwarzbrauner Düsternis versank, eine Lyrische Hausapotheke aus dem poetischen
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