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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
Autoren: Nina George
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heiße, schnelle Affäre.«
    » Die Nacht gehört also zu den One-Night-Stands der Literatur? Sie ist ein Flittchen?«
    Verflucht. Mit Schriftstellern sollte man nicht über andere Bücher reden, alte Buchhändlerregel.
    »Nein. Bücher sind wie Menschen, Menschen sind wie Bücher. Ich sag Ihnen, wie ich es mache. Ich frage mich: Ist er oder sie die Hauptfigur ihres eigenen Lebens? Was ist ihr Motiv? Oder ist sie eine Nebenfigur in ihrer eigenen Geschichte? Ist sie dabei, sich selbst aus der eigenen Story wegzukürzen, weil ihr der Mann, der Beruf, die Kinder, der Job ihren ganzen Text auffrisst?«
    Max Jordans Augen wurden größer.
    »Ich habe ungefähr dreißigtausend Geschichten im Kopf, das ist nicht sehr viel, wissen Sie, bei über einer Million lieferbarer Titel allein in Frankreich. Die hilfreichsten achttausend Werke habe ich hier, als Notapotheke, aber ich stelle auch Kuren zusammen. Ich mische sozusagen eine Arznei aus Buchstaben: das Kochbuch mit den Rezepten, die sich lesen wie ein wunderbarer Familiensonntag. Ein Roman, bei dem die Heldin der Leserin ähnelt, Lyrik, die die Tränen fließen lässt, die sonst vergiften, wenn man sie schluckt. Ich höre zu, mit …«
    Perdu zeigte auf seinen Solarplexus.
    »Und darauf höre ich auch.« Er rubbelte über seinen Hinterkopf. »Und hierauf.« Jetzt zeigte er auf die zarte Stelle über seiner Oberlippe. Wenn es da kribbelte …
    »Also, das kann man doch nicht …«
    »Und ob man das kann.« Er vermochte es für 99,99 Prozent aller Menschen.
    Aber es gab auch einige, die konnte Perdu nicht so durchhörschauen.
    Sich selbst, zum Beispiel.
    Das braucht Monsieur Jordan aber nicht gleich zu wissen.
    Während Perdu auf Jordan eingeredet hatte, war ein gefährlicher Gedanke wie nebenbei zu ihm nach vorn und in sein Bewusstsein spaziert.
    Ich hätte gern einen Jungen gehabt. Mit ***. Mit ihr hätte ich alles gern gehabt.
    Perdu schnappte nach Luft.
    Seit er das verbotene Zimmer geöffnet hatte, verschob sich etwas. Es ging ein Riss durch sein Panzerglas, mehrere haarfeine Risse, und es würde alles auseinanderbrechen, wenn er sich nicht wieder fing.
    »Sie sehen gerade sehr … atmungsinaktiv aus,« hörte Perdu Max Jordans Stimme. »Ich wollte Sie nicht beleidigen, ich möchte nur wissen, was machen die Leute, denen Sie sagen: Ich verkaufe Ihnen das nicht, Sie passen nicht zueinander.«
    »Die? Die gehen. Und Sie? Was macht Ihr nächstes Manuskript, Monsieur Jordan?«
    Der junge Schriftsteller ließ sich mit seinen Melonen in einen der von Bücherstapeln umrahmten Sessel fallen.
    »Nichts. Keine Zeile.«
    »Oh. Und wann müssen Sie abgeben?«
    »Vor einem halben Jahr.«
    »Oh. Und was sagt der Verlag dazu?«
    »Meine Verlegerin weiß ja nicht, wo ich bin. Niemand weiß es. Niemand darf es erfahren. Ich kann nämlich nicht mehr. Ich kann nicht mehr schreiben.«
    »Oh.«
    Jordan lehnte seine Stirn an die Melonen.
    »Was machen Sie, wenn Sie nicht mehr weiterkönnen, Monsieur Perdu?«, fragte er matt.
    »Ich? Nichts.«
    Fast nichts.
    Ich laufe nachts durch Paris, bis ich müde bin. Ich putze Lulus Motor, die Außenwände, die Fenster und halte das Schiff fahrbereit bis zur letzten Schraube, obwohl es sich seit zwei Jahrzehnten nicht fortbewegt.
    Ich lese Bücher, zwanzig gleichzeitig. Überall, auf dem WC, in der Küche, im Bistro, in der Metro. Ich lege Puzzles so groß wie Zimmerböden, zerstöre sie, wenn ich fertig bin, und fange noch einmal an. Ich füttere herrenlose Katzen. Ich ordne Lebensmittel nach dem Alphabet. Ich nehme manchmal Tabletten zum Schlafen. Ich nehme Rilke zum Aufwachen. Ich lese keine Bücher, in denen Frauen wie *** vorkommen. Ich versteinere. Ich mache weiter. Jeden Tag dasselbe. Nur so überlebe ich. Aber sonst, nein, sonst mache ich nichts.
    Perdu gab sich einen Ruck. Der Junge hatte um Hilfe gebeten. Er wollte nicht wissen, wie es Perdu ging. Also los.
    Der Buchhändler holte aus dem kleinen nostalgischen Tresor hinter dem Tresen seinen Schatz hervor.
    Sanarys Südlichter.
    Das einzige Buch, das Sanary verfasst hatte. Zumindest unter diesem Namen. »Sanary« – nach dem einstigen Exil der Schriftstellerinnen und Schriftsteller Sanary-sur-mer an der provenzalischen Südküste – war ein geschlossenes Pseudonym.
    Sein – oder ihr? – Verleger Duprés saß in einem Seniorenheim, draußen in Ville de Paris, mit Alzheimer und sonnigem Gemüt. Duprés hatte Perdu bei dessen Besuchen zwei Dutzend verschiedene Geschichten aufgetischt, wer
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