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Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)

Titel: Das Lavendelzimmer: Roman (German Edition)
Autoren: Nina George
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Geruchsspuren und Echos, die Menschen mit ihren Gefühlen und Gedanken hinterlassen. Che konnte spüren, ob in einem Zimmer geliebt, gelebt oder gestritten wurde.
    Perdu lauschte an jedem Sonntag auch Madame Bomme, wie sie und der Witwenclub über schmutzigen Büchern mädchenhaft kicherten, die er ihnen hinter dem Rücken ihrer verkniffenen Anverwandten besorgt hatte.
    Das Haus No. 27 in der Rue Montagnard war ein Meer aus Lebenszeichen, die an Perdus schweigende Insel brandeten.
    Er hörte seit zwanzig Jahren zu. Er kannte seine Nachbarn so gut, dass es ihn manchmal wunderte, wie wenig sie von ihm wussten (obgleich ihm das auch ganz recht war). Sie ahnten weder, dass er so gut wie keine Einrichtung außer Bett, Stuhl und Kleiderstange besaß, keinen Nippes, keine Musik, keine Bilder, Fotoalben, Sofagarnitur oder Geschirr (außer für eine Person). Noch dass er diese Schlichtheit freiwillig gewählt hatte. Die beiden Zimmer, die er noch bewohnte, waren so leer, dass es hallte, wenn er hustete. Im Wohnzimmer befand sich nur das übergroße Landkartenpuzzle auf dem Boden. Sein Schlafzimmer teilten sich eine Matratze, das Bügelbrett, eine Leselampe und eine Kleiderstange auf Rollen mit einem dreifachen Satz der exakt gleichen Kleidungsstücke: graue Hose, weißes Hemd, brauner V-Pullover. In der Küche waren ein Herdkocher, eine Kaffeebüchse und ein Regal mit Lebensmitteln. Alphabetisch geordnet. Es war vielleicht ganz gut, dass dies niemand sah.
    Und doch hegte er merkwürdige Gefühle für die Bewohner des Hauses No. 27. Es ging ihm auf eine unerklärbare Weise besser, wenn er wusste, dass es ihnen gutging. Und er versuchte, seinen Teil dafür zu tun, ohne dass es allzu sehr auffiel. Die Bücher halfen ihm dabei. Ansonsten bewegte er sich stets im Hintergrund, wie die Grundierung eines Bildes, und vorn spielte sich das Leben ab.
    Jener neue Mieter, Maximilian Jordan, aus dem Dritten, der ließ Monsieur Perdu allerdings noch nicht in Ruhe. Jordan trug maßgeschneiderte Gehörschutzpropfen, darüber Ohrenschützer und an kühlen Tagen eine Wollmütze. Ein junger Schriftsteller, mit seinem ersten Werk wie mit einem Tusch berühmt geworden und seither ständig auf der Flucht vor Fans, die am liebsten bei ihm einziehen wollten. Jordan hatte ein seltsames Interesse für Monsieur Perdu entwickelt.
    Als Perdu nun vor der Wohnungstür gegenüber den Stuhl und die Vase auf und um den Küchentisch arrangierte, hatte das Weinen aufgehört.
    Stattdessen hörte er eine Diele knacken, auf der jemand so aufzutreten versuchte, dass es nicht knacken sollte.
    Er spähte durch die Milchglasscheibe der grünen Tür. Dann klopfte er zweimal, ganz sachte.
    Ein Gesicht kam näher. Ein undeutliches, helles Oval.
    »Ja?«, flüsterte das Oval.
    »Ich habe einen Stuhl und einen Tisch für Sie.«
    Das Oval schwieg.
    Ich muss sanft mit ihr sprechen. Sie hat so viel geweint, dass sie wahrscheinlich ausgetrocknet ist und zerfällt, wenn ich zu laut bin.
    »Und eine Vase. Für Blumen. Rote Blumen, zum Beispiel, sie würden sehr schön auf dem weißen Tisch aussehen.«
    Er drückte seine Wange fast ans Glas.
    Flüsterte: »Ich kann Ihnen aber auch ein Buch geben.«
    Das Licht im Treppenhaus erlosch.
    »Was für ein Buch?«, flüsterte das Oval.
    »Eines, das tröstet.«
    »Ich muss aber noch weinen. Sonst ertrinke ich. Verstehen Sie das?«
    »Natürlich. Manchmal schwimmt man in ungeweinten Tränen und geht darin unter, wenn man sie in sich behält.« Und ich bin am Grunde eines solches Meeres. »Dann bringe ich also ein Buch zum Weinen.«
    »Wann?«
    »Morgen. Versprechen Sie mir, dass Sie bis dahin etwas essen und etwas trinken, bevor Sie weiterweinen?«
    Er wusste nicht, warum er sich das herausnahm. Es musste an der Tür zwischen ihnen liegen.
    Das Glas beschlug von ihrem Atem.
    »Ja«, sagte sie. »Ja.«
    Als das Treppenlicht aufflammte, zuckte das Oval zurück.
    Monsieur Perdu legte kurz die Hand an die Scheibe. Dort, wo eben noch ihr Gesicht gewesen war.
    Und wenn sie noch etwas braucht, eine Kommode, einen Kartoffelschäler, kaufe ich es eben und behaupte, es stammt von mir.
    Er ging in seine leere Wohnung, legte den Riegel vor. Die Tür zum Zimmer hinter den Büchermauern stand immer noch offen. Je länger Monsieur Perdu hineinschaute, desto mehr war es, als ob sich der Sommer 1992 aus dem Boden emporbäumte. Die Katze mit ihren weißen Samtpfotenschuhen sprang vom Diwan und streckte sich. Die Sonne streifte einen nackten Rücken, der
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