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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten
Autoren: Robert Silverberg
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die Wirklichkeit der Nachwelt als völlig anders erwiesen, als es einem die Priester versprochen hatten. Das ›Haus des Staubes und der Finsternis‹ hatten sie das vor langer Zeit in Uruk genannt. Ein Ort, an dem die Toten in ewiger Nacht und Trübsal hausten, gekleidet wie Vögel, mit Vogelschwingen als Kleidung. Wo die Bewohner Staub als Brot zur Nahrung erhielten und Lehm statt Fleisch. Wo die Könige der Erde, die Herren, die hohen Gesetzgeber, erniedrigt und ohne ihre Kronen verweilen mußten und den Dämonen wie Sklaven zu Diensten sein. Es war also nicht erstaunlich, daß er damals den Tod so gefürchtet hatte, solange er glaubte, daß dies ihn für alle künftige Zeit erwartete.
    Nun, dann aber hatte sich erwiesen, daß dies alles nichts weiter war als Märchen und Torheit.
    An die frühesten Tage in der Nachwelt konnte Gilgamesch sich nicht mehr deutlich erinnern. Sie waren ihm zu nebelhafter Unwirklichkeit verblichen. Erinnerung war hier eine trügerische Sache, so unstet wie die Sande der Wüste: Nur zu oft hatte er immer wieder entdecken müssen, daß er sich an viele Ereignisse aus seiner Nachweltzeit erinnerte, die in Wirklichkeit niemals stattgefunden hatten, und daß er vieles vergessen hatte, was geschehen war. Dennoch bewahrte er sich durch alle Dünste und Unklarheiten seines Geistes einen scharfen Eindruck von der Nachwelt, wie sie gewesen war, als er zum ersten Mal in ihr erwacht war: ein Ort, ganz ähnlich wie Uruk, so schien es, mit niederen Häusern mit flachem Dach aus weißgekalkten Lehmziegeln, und Tempel, die sich über vielgestuften Plattformen erhoben. Dort hatte er die Helden der altvergangenen Zeit gefunden, die lebten, wie sie stets gelebt hatten, Männer, die in seiner Knabenzeit große Krieger waren, und andere, die kaum mehr waren als Legenden im Land seiner Vorväter, in der Frühdämmerung der Zeit. So jedenfalls war es an dem Ort, an dem Gilgamesch sich zum erstenmal befand; später entdeckte er, daß es andere Bereiche gab, die ganz verschieden waren, Orte, wo die Menschen in Höhlen lebten, oder in Gruben in der Erde, oder in flachen Häusern aus Schilfrohr, und aber andere Orte, wo die Behaarten Männer lebten, die gar keine Häuser hatten. Das meiste davon war nun verschwunden, war von jenen stark verwandelt worden, die in späteren Tagen in die Nachwelt kamen, und in der Tat hatten die Später Toten eine ganz beträchtliche Bürde an verrückter Häßlichkeit und törichter spekulativer Theorien mit sich hereingeschleppt. Aber dennoch, die Vorstellung, daß dieses ganze weite Reich – unendlich viel größer als sein eigenes geliebtes Land Zwischen den Zwei Strömen – nur existieren sollte, um die Gestorbenen für ihre Sünden zu bestrafen, erschien Gilgamesch denn doch als zu dümmlich, als daß man ernsthaft darüber nachzudenken brauchte.
    Aber wieso war dann die Lust und Freude an der Jagd für ihn so schal und leer geworden? Wieso fand er nicht mehr die alte Begeisterung, wenn er die Beute belauerte, wenn er den großen Bogen spannte, wenn er den Pfeil genau ins Ziel schoß?
    Er glaubte zu wissen, weshalb, aber es hatte nichts mit Bestrafung zu tun. In den vielen tausend Jahren seines Lebens in der Nachwelt hatte es reichlich lustvolle Jagden gegeben. Und wenn dies jetzt nicht mehr so war, dann deshalb, weil er in diesen späteren Tagen einsam jagte. Enkidu war nicht an seiner Seite, sein Freund, sein getreuer Bruder, sein anderes Selbst. Dies war es und sonst nichts: Denn er hatte sich ohne Enkidu niemals mehr als vollkommen gefühlt, seit sie einander erstmals begegneten, als sie miteinander rangen und einander lieben lernten, wie Brüder sich lieben… vor langer Zeit… in der Großen Stadt Uruk. Dieser gewaltige ungeschlachte Mann, diese zottige wilde Kreatur von den Berghöhen: Gilgamesch hatte nie einen Menschen so geliebt, wie er Enkidu liebte.
    Aber es war das Schicksal Gilgameschs, so schien es, daß er ihn wieder und immer wieder verlieren mußte.
    Zum erstenmal war ihm Enkidu vor langer, langer Zeit entrissen worden, als sie beide noch gemeinsam in Uruk lebten, in der fröhlich-frechen prahlerischen Fülle kräftiger königlicher Männlichkeit. An einem Tag der Düsternis nahmen die Götter Rache an Gilgamesch und Enkidu für deren stolze Überheblichkeit und ihre Befriedigung über die eigenen zügellosen Großtaten und sandten ein Fieber, das Enkidu aus dem Leben riß und Gilgamesch in die schreckliche Einsamkeit des Alleinherrschers versetzte.
    Und
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