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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten
Autoren: Robert Silverberg
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in eben diesem Augenblick eine neue Sonne geboren worden wäre.
    Vor ihm ragte in der großen Leere eine mächtige Gestalt auf, ein Mann, der so groß war wie der Höchste Turm und vor dem Gilgamesch klein wirkte wie vor einem Gott. An Kleidung trug er weiter nichts als ein gefälteltes wollenes Gewand, wie es im Lande Sumer die Männer getragen hatten, so daß er über den Hüften nackend war. Seine Schultern waren so breit wie ein Berg, seine Brust so weit wie der Himmel. Seine Haut war glatt und gedunkelt von der Sonne, und sein Kopf war glattgeschoren, und sein Bart war dicht und schwarz und fiel in gekrausten Locken nieder.
    Am erstaunlichsten aber waren die Augen: dunkel, glänzend und riesig groß, so groß, daß sie beinahe die ganze obere Gesichtshälfte einnahmen. Diese Augen kannte Gilgamesch. Er hatte sie früher gesehen – und sie niemals vergessen können.
    »Vater?«
    »Ja. Ich bin Lugalbanda.«
    Gilgamesch ließ sich auf beide Knie nieder. Und dennoch hatte er das Gefühl, als saugte ihn eine Strömung hinein in diese weiten dunklen Augenteiche, so daß er auf ewig in der Seele seines Vaters untergehen müßte.
    »Wie großartig du bist, mein Sohn«, sagte Lugalbanda. »Komm zu mir. Näher. Näher.«
    »Vater…«
    Lugalbanda lächelte. Seine Stimme kam polternd von sehr weit oben. »Ach, Gilgamesch, Gilgamesch, du warst ja noch ein kleiner Junge, als ich fortging. Trotzdem habe ich schon damals erkannt, daß du eines Tages ein König sein würdest. Ich hätte so gern um dich sein wollen, um zu sehen, wie du zu deiner Mannheit heranwächst. Aber die Götter nahmen mich zu früh zu sich.«
    »Ja. Ich war sechs Jahre alt.«
    »Sechs, ja. Aber auch bevor ich starb, sah ich dich so selten. Es gab so viele Kriege, in denen ich kämpfen mußte. Und die Sühnepilgerfahrten danach, die heiligen Tempel, die besucht werden mußten…«
    »Du hattest mir versprochen, daß du später Zeit haben würdest für mich«, sagte Gilgamesch. »Dann wollten wir zusammen den Löwen jagen, versprachst du, und du wolltest mich alle die Dinge der Mannheit lehren.«
    »Aber es konnte nicht geschehen«, erwiderte ihm Lugalbanda.
    »Auch nach deinem Tod glaubte ich immer noch weiter, daß du zurückkehren würdest«, sagte Gilgamesch. »Vielleicht habe ich das mein ganzes Leben lang geglaubt, daß ich dich eines Tages wiederfinden würde.«
    »Und hier bin ich.«
    »Bin ich tot, Vater?«
    »Tot? Ja. Ja, natürlich. Wir sind alle Tote.«
    »Ich meine, werde ich nun Schlaf finden und Ruhe? Werde ich eingehen in die große Dunkelheit und niemals mehr erwachen müssen?«
    »Ach«, sagte Lugalbanda, »aber unsere Seelen sind ewig lebendig. Hast du denn dies nicht gelernt auf deiner langen Suche?«
    Gilgamesch schwieg und starrte zu der unermeßlich hohen Gestalt hinauf, die den Abgrund vor ihm ausfüllte. Nach einiger Zeit sprach er: »Manchmal glaube ich, daß ich überhaupt nichts begriffen habe, Vater.«
    Lugalbanda lächelte und streckte ihm eine riesenhafte Hand entgegen.
    »Komm näher, Gilgamesch. Und leg deine Hand in meine.«
    »Ja, Vater.«
    »So. Ja, so.« Ihre Hände berührten sich. Und ein so gewaltiger Kraftstrom durchfloß Gilgamesch, daß er beinahe zum zweitenmal auf die Knie gefallen wäre, doch er hielt sich aufrecht, nahm die Kraft entgegen und in sich auf. Die Größe und Majestät Lugalbandas waren überwältigend. Die Augen Lugalbandas waren wie Sonnen über ihm. Endlich begegne ich meinem Vater, dachte Gilgamesch. Und er ist ein Gott.
    Gelassen sprach dann Lugalbanda: »Ich sage dir nur dies eine, mein Sohn Gilgamesch, und das weißt du bereits, obwohl du glaubst, du hättest es vergessen: Es gibt keinen Tod. ES GIBT DEN TOD NICHT. Es gibt nur die Verwandlung, und die Verwandlung führt nur zu erneuter Geburt und erneutem Leben. Deine Seele wandert immer weiter, voll Freude und Erstaunen, durch alles, was da kommen will; und wenn alles geschehen ist, so wird es wieder und wieder und immer wieder geschehen, ohne Ende und ohne zu verblassen. Wir sind unzerstörbar, auch wenn wir sterben und wie Asche zerstreut werden im Zeitenwind, denn wir werden immer wieder zusammengeführt und neugeboren. Und dies ist die Wahrheit über die Welt, Gilgamesch. Und es ist die einzige Wahrheit: Es gibt keinen Tod! Verstehst du mich, Gilgamesch? Verstehst du, begreifst du das?«
    »Doch, ich glaube, ich verstehe es. Ja, Vater.«
    »Das ist gut. Dann geh nun. Geh. Und nimm meinen Segen mit dir.«
    Und dann bekam Gilgamesch den
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