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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten
Autoren: Robert Silverberg
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gebetet hatte, demütigte sich nun vor den Göttern, die er einst verehrt hatte.
    Enki, verschone mich! Enlil, Gewaltiger, befreie mich! Lugalbanda, Vater – gewähre mir Frieden!
    Aber als Antwort kam ihm nur das mißtönende Getöse der Straße entgegen und die üblen Dünste, die erstickend in der Luft hingen, und das summende Geschnatter von Gallagher und Enkidu und Helena.
    Und wieder schloß er die Augen und richtete sein Flehen zu den Großen Göttern Sumers und zu seinem Göttlichen Vater Lugalbanda. Und er öffnete die Augen wieder und schaute ohne Hoffnung wieder hinaus in den häßlichen Haufen von Schmutz und Unflat, der das ›Land der Lebenden‹ hieß.
    Aber dann erblickte er etwas vor sich, das in seinem Innern eine große Fremdheit bewirkte, als wollte die Erde aufbrechen und explodieren, und um ihn herum begann alles wirbelnd zu kreisen. Er blinzelte heftig. Er hielt die Luft an. Und während er mit dem Arm die Straße hinab deutete, sagte er. »Enkidu? Siehst du den Mann dort?«
    »Welchen, Bruder? Da sind so viele.«
    »Den dort mit dem roten Gesicht und der breiten Brust, da drüben. Gewiß haben wir den schon einmal getroffen – in der Nachwelt…«
    »Ich bin nicht sicher, welchen du…«
    »Da! Dort drüben! Er war am Hof des Priesterkönigs Johannes, erinnerst du dich nicht? Er war der Gesandte von König Heinrich. Er und der andere Mann, der mit dem merkwürdigen langen Gesicht – der trug den Namen Howard, ich erinnere mich nun, Robert Howard…«
    »Hier an diesem Ort? Wie wäre das möglich? Hier ist das Land der Lebenden, Bruder.«
    »Aber ich sage dir, es ist der Mann!« beharrte Gilgamesch. »Oder sein Zwillingsbruder.«
    Erschüttert schaute er in die wachsende Dämmerung. War es möglich? Vielleicht spielten ihm seine Augen einen Streich. Wie konnte der Mann Robert Howard denn an diesem Ort sein, wie sollte es möglich sein, daß er sich genau in der selben Straße befand wie er, in dieser einen unter den Tausenden chaotisch vollgestopften Straßen dieser Stadt in dieser chaotischen übervölkerten Welt? Es muß ein Trugbild der anbrechenden Nacht sein, dachte er. Oder mein Erinnerungsvermögen täuscht mich.
    Aber nein – nein! – auch der rotgesichtige Mann wies mit dem Arm auf ihn, auch er starrte, wie vom Schlag gerührt, zu Gilgamesch herüber – dann kam er wild auf Gilgamesch zugerannt, stieß die anderen Passanten beiseite…
    »Conan!« schrie der Mann. »Bei Crom! Du bist es, Lord Conan! Hier bin ich – ich komme, ich komme!«

22
    G ILGAMESCH blieb ganz still stehen, er atmete kaum. Auf einmal war plötzlich alles irgendwie anders. Die Straße um ihn herum wurde nebeltrüb und unwirklich. Die turmhohen Gebäude zuckten und schwankten wie zarte Pflanzen, die unter der Wasserfläche leben und sich in der Strömung winden. Das hektische Brüllen des Verkehrs erstarb mehr und mehr. Er konnte den Mann Gallagher kaum noch sehen, und sogar Helena und Enkidu erschienen ihm irgendwie fern und blaß.
    Der seltsame Mann mit dem roten Gesicht, Howard, kniete vor ihm, wie bereits einmal, vor langer Zeit, im Outback, und schluchzte und stammelte vor sich hin.
    Dann tauchte der andere Mann auf, der mit dem hageren bleichen Knochengesicht – der hieß Lovecraft, erinnerte sich Gilgamesch, und war der andere Gesandte des Achten Heinrich gewesen. Er legte Howard die Hand auf die Schulter und sagte freundlich: »Steh auf, Bob. Du weißt doch, daß er nicht dein Conan ist. Er ist König Gilgamesch.«
    »Das ist er. Ja. Ja.«
    »Komm weiter. Laß ihn in Ruhe.«
    »Weshalb seid ihr hier?« fragte Gilgamesch. »Ist hier nicht das Land der Lebenden?«
    »Wir sind alle erschienen, um dich zu besuchen«, sagte eine andere vertraute Stimme. Gilgamesch sah aus dem Augenwinkel Herodes von Judäa, nicht mehr in seiner römischen Toga, sondern in einem Anzug der Später Toten. Vy-otin war neben ihm und sah majestätisch aus in einem mächtigen Mantelumhang und einem schmalkrempigen Hut, der tief über die Stirn gezogen war und das fehlende Auge verdeckte. Sie lächelten ihm zu. Die Gebäude waren inzwischen fast nicht mehr zu sehen. Die Fahrzeuge, die über die Straße rasten, waren auf rätselhafte Weise zu lautlosen Geisterwagen geworden. Herodes schob ihm den Arm unter, und Vy-otin ergriff Gilgamesch am anderen Arm.
    »Aber ihr zwei müßtet doch in Uruk sein«, stammelte Gilgamesch unsicher. »Ihr solltet euch doch um die Regierungsgeschäfte in der Stadt kümmern.«
    »Die Stadt kommt auch
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