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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten
Autoren: Robert Silverberg
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mal, ihr könnt alle drei für ‘ne Weile im Club bleiben, wenn ihr das wollt, aber ich habe da bloß das eine Zimmer für euch alle, also müßt ihr euch verdammt schnell um ein Hotel kümmern oder sonstwas, okay? Und um irgend sowas wie ‘nen Job. Im Club brauchen wir eigentlich keine zwei Rausschmeißer, aber vielleicht könnt ihr zwei beiden euch ja abwechseln, einen Tag Hinky, dann Gil, und der andre kann vielleicht hinten aushelfen. Bei zwei solchen Brocken, wie ihr es seid, kommt bestimmt kein Kunde auf dumme Gedanken. Paßt dir das, Gil, he? Nummer Zwei Rausschmeißer im Ultra Ultra?«
    »Spricht der Mann zu mir?« fragte Gilgamesch.
    »Sie reden alle sehr hastig hier«, erklärte Enkidu.
    »Doch ich beginne zu verstehen, was sie sagen.« Er wandte sich zu Gallagher. »Er freut sich über den Job, Bill. Ja. Sehr.«
    »Fein. Und du, Helen? Du brauchst auch ‘ne Art Arbeit. Meinst du, du könntest oben-ohne?«
    »Oben ohne…?«
    »Du weißt schon. Strippen. Haut zeigen. Die Kugeln kullern lassen.«
    Helena blickte ihn fest an. »Habe ich das richtig verstanden? Du meinst, ich soll mich vor anderen Leuten ausziehen? Meinst du das mit ›oben-ohne‹?« Sie lachte. »In dem Gedicht, das sie über mich schrieben, waren die Türme oben ohne, nicht ich.«
    »Was?«
    »Die Türme. Die nackten Türme Ilions.«
    Gallagher sagte: »Hilf mir auf die Sprünge, Hinkadoo. Was redet sie da?«
    Helena antwortete: »Aber du weißt doch: Das Angesicht, das tausend Schiffe in Bewegung setzte…«
    »Aha. Ein Gedicht«, sagte Gallagher zweifelnd. »Über dich, meinst du?« Er überlegte. ›»War dies das Angesicht, das tausend Schiffe in Bewegung setzte‹ – Und das handelt von Helena von Troja?«
    »Ja.«
    »Und du bist…?«
    »Es ist ein Witz«, mischte Enkidu sich ein. »Sie tut gern so, als wäre sie die Trojanische Helena. Genau wie mein Gilgamesch gern so tut, als ob er Gilgamesch ist, der König, der vor langer Zeit in Sumer herrschte. Ein Witz, ein Scherz, verstehst du, Bill? Bloß ein Witz.«
    »In Ordnung«, sagte Gallagher.
    Wie leicht Enkidu die Ortssprache angenommen hat, dachte Gilgamesch. Wie glatt ihm die Lügen von der Zunge gehen!
    Es ist bloßer Lärm, dachte er. Alles in dieser Welt Gesagte und Getane ist sinnleerer Lärm, gewichtloses Getöse ohne Bedeutung. Und der Lärm wurde von Augenblick zu Augenblick unerträglicher. Das Brüllen, das Dröhnen, das Hupen, das Geschrei – er glaubte, das Herz müßte ihm vor soviel Wahnsinn zerspringen. Und doch kümmerte Enkidu sich gar nicht darum, und Helena ebenfalls nicht. Sie plauderten fröhlich immer weiter, redeten so rasch mit diesem Mann Gallagher für Gilgamesch unverständliche Worte, so daß es ihm vorkam, als wären auch ihre Worte ein verschwommener Lärm. Er blickte Enkidu verzweifelt an, doch Enkidu lächelte nur und plapperte weiter. Gilgamesch zitterte. Er hatte jetzt ein Dröhnen in den Ohren, in seinem Kopf, in der Brust. Die Lichter der großen Häuser blinkten irre, wie außer Kontrolle geratene Leuchtfeuer. Überall um ihn herum stiegen Stimmen auf und erloschen wieder, bald donnernd wie Wasserfälle, bald ersterbend zu einem unheimlichen Flüstern. Völlig fremde Menschen auf der Straße zeigten auf ihn, stießen sich mit den Ellbogen an und lachten.
    Ich werde verrückt, dachte Gilgamesch.
    Götter, gibt es keinen Weg, um von hier zu verschwinden? Ich bin es überdrüssig! Es ist Zeit, weiterzuziehen, ich muß von diesem Ort entkommen, oder ich gehe zugrunde. Ich will mich niederwerfen, mich unterwerfen – ja, ich will um Erlösung flehen…
    Einst hatte er sich gewünscht, ewig zu leben, und das war ihm versagt worden, denn am Ende seiner Tage im ersten Uruk war er gestorben, hoch an Jahren und geliebt von seinem Volk; aber dieser Tod hatte nur zu einer neuen Geburt geführt, in einer Welt, in der es den Anschein hatte, als werde er wirklich ewig leben; aber als er das so heftig ersehnte Ewige Leben erlangt hatte, schien es ihm ohne Saft und Geschmack, und er konnte sich nicht damit zufriedengeben. Und darauf beschloß er, in das Land der Lebenden zurückzukehren. Und hier war er nun. Ach, dachte er, wenn ich doch nur von meiner Fahrt entbunden werden könnte, ich würde nicht länger ruhelos sein, ich würde mich mit Freuden zur Ruhe setzen und ablassen von meinem Fragen und Suchen. Ja! Ja, das würde ich!
    Und nun schwoll ein Gebet in ihm an wie ein Fluß. Er, der in den Tausenden Jahren seines Lebens nach dem Leben nicht mehr
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