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Das Land der lebenden Toten

Das Land der lebenden Toten

Titel: Das Land der lebenden Toten
Autoren: Robert Silverberg
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eine Weile ohne uns aus«, sagte Vy-otin. »Das hier war wichtiger. Also, gehen wir, Gilgamesch.«
    »Wartet!« sagte er. »Enkidu… Helena…«
    »Komm nur«, sagte Herodes. »Hier ist New York! Das müssen wir doch ausnützen! Zuerst zum Natural History Museum. Vy-otin will uns dort die Mammutknochen zeigen und Malereien, die Freunde von ihm vor langer Zeit machten – und dann sollte ich vielleicht eigentlich mal kurz in der Synagoge vorbeischauen – es ist nämlich Freitagabend, müßt ihr wissen – aber ihr könnt gern mitkommen, die werden nichts dagegen haben…«
    »Und das Museum of Modern Art«, sagte Picasso, der aus dem Dunst auftauchte. »Das Metropolitan. Das dürft ihr auch nicht vergessen. Er hat eine Menge zu lernen über die großen Maler. Er soll sich Cezanne anschauen. Und Velazquez. Y pues, verdammt, soll er sich Picasso anschauen!«
    »Seid ihr denn alle hier?« fragte Gilgamesch leise. »Ihr alle? Jeder?«
    Ja. Sie waren alle da. Da war der freundliche alte elsässische Doktor – wieso hieß der Schweitzer? – und lächelte ihm zu und zwirbelte an den Spitzen seines gewaltigen Schnauzbartes. Und da war Simon Magus, der ihm eine Weinflasche entgegenschwenkte. Und da? War das Caesar? Ja. Und Walter Raleigh, in voller schimmernder Rüstung, der eine höfische Verbeugung versuchte? Ja, er war es. Ja. Benommen, verwirrt, machte Gilgamesch ein paar schwankende Schritte auf sie zu. Die Stadt um ihn herum war nun beinahe völlig verschwunden, um sie her war nur noch ein fahles Glühen, das sich bis weit zum Horizont erstreckte. Dann kam es ihm so vor, als befände er sich nun in der ehrwürdigen Festhalle Vy-otins, dem Höhlenpalast der Eisjäger, wo die Knochen der gewaltigen Tiere umherlagen wie in den nebelhaften Frühzeiten. Und überall rings um ihn herum waren unerwartete Gestalten, die aus der anderen Welt zu ihm kamen, sich näherdrängten – nun begrüßte ihn der Priester Johannes, dann der hinkende kleine Magalhaes, und dann Belshazzar, Amenhotep, Kublai Khan, Bismarck, Lenin…
    Und da war Calandola, der etwas entfernt von den anderen stand wie eine starre, schwarze, steinerne Säule; er grinste, die Augen flammten wie Feuer – und der Behaarte Mann – und Dumuzi – Ninsun – Minos – Varuna von Meluhha…
    Sie waren allesamt da, alle, die er jemals gekannt hatte. Ein unabsehbarer Reigen von Gesichtern umkreiste ihn, sie nickten ihm zu, lächelten, winkten, grinsten, kniffen ein Auge zu, lachten…
    »Was soll das?« fragte Gilgamesch. »Was geschieht mit mir?«
    Er dachte daran, daß er nun vielleicht endlich sterben würde. Seinen dritten und endlich endgültigen Tod, den wahren Tod, nachdem er von dieser in jene Welt gestorben war und von jener dort wieder zurück in diese, und daß er nun weitergehen dürfe in das Vergessen, in die Auslöschung, den letzten Schlaf. Konnte es das sein? Dann also, endlich – war es endlich der Friede? Schlaf? Ewige Ruhe? Ein Ende der Wanderschaft. Ein Ende des Königtums. Ein Ende für Gilgamesch?
    Er begriff nichts. Gar nichts.
    »Herodes? Mutter? Ich flehe euch an – sagt mir doch – bitte, sagt mir…?«
    Es wurde noch dunkler. Das Glühen im Himmel verblich, und die Gestalten um ihn herum waren nur noch Schatten, gesichtslos, nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Er sah die Halle der Eisjäger nicht mehr. Und dann kam es ihm so vor, als ob er wieder in Uruk sei, dem ersten Uruk, der Stadt, in der er geboren wurde – im großen königlichen Palast, dem grandiosen Ort mit den wehrhaften Tortürmen, den raffiniert gegliederten Fassaden und hohen Säulen, wo alle Mauern in strahlendem Weiß leuchteten und die Decken aus kostbarem schwarzen Holz aus fernen Ländern waren.
    »Enkidu? Enkidu, wo bist du? Vy-otin? Simon, bist du da? Oder du, Behaarter Mann?«
    »Komm zu mir, Gilgamesch!« rief eine gewaltige Stimme in der Dunkelheit. Eine Stimme, die er nicht kannte.
    »Ich sehe dich nicht. Wer bist du?«
    »Komm her zu mir, Gilgamesch!« Und dann sprach die Stimme einen anderen Namen, diesen geheimen Namen, seinen Geburtsnamen, den keiner jemals aussprechen durfte, und beschwor ihn damit und zwang ihn zu sich.
    Die mächtigen rollenden Töne brachen über Gilgamesch herein wie das Dröhnen einer riesigen Glocke. Er tat unsicher einen Schritt voran, dann noch einen und einen weiteren. Und dann umfing ihn äußerste Finsternis und Schwärze. »Komm zu mir!« befahl die Stimme. »Komm! Komm! Komm!«
    Und dann war da plötzlich Helle, wie wenn
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