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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter
Autoren: Marie-Sabine Roger
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unten, und ich verwechsle die beiden Etagen nicht mehr.
    Annette ist nicht besonders groß und ganz zierlich. Sie ist sechsunddreißig, sieht aber jünger aus. Es ist dämlich, aber ich hatte Angst, ihr wehzutun. Man kann sagen, dass ich ganz schön wuchtig bin. Ich fragte mich, ob ich sie nicht erdrücken würde, wenn ich mich auf sie legte, und ob sie genug Platz hätte, um mich in sich aufzunehmen, ob ich sienicht zerreißen würde. Lauter solchen Quatsch, aber es beschäftigte mich eben. Und Nachdenken schadet der Leistungsfähigkeit.
    Es gibt Momente, da bleibt man besser spontan.
    Annette ist ulkig gebaut: Sie hat eine ganz dünne Taille, die ich mit einer Hand umfassen könnte, und Brüste, die ganz rund und fest sind, sie fühlen sich gut an und halten einiges aus, das können Sie mir glauben. Und dann Beine, die für ihre Größe sehr lang sind, und einen kleinen Hintern wie ein Kohlkopf. Sie ist vielleicht nicht wirklich hübsch mit ihren Augenringen, dem mageren Gesicht und dem manchmal todtraurigen Blick, aber sie hat etwas. Landremont sagt, sie hätte einen Hintern aus Gold, aber ein Gesicht zum Weglaufen. Der muss gerade reden, seine Frau, die sah aus wie ein Pferd. Friede ihrer Seele, der Herr bewahre sie in Seiner heiligen Nähe, ansonsten war sie wirklich eine nette Frau.
    Das alles nur, um zu sagen, dass Annette an dem Abend also die Initiative ergriffen hat und dass ich sie nicht erdrückt habe, auch nicht erstickt oder sonst was Unfallmäßiges. Als ich in ihr drin war, fühlte es sich an wie lauter Watte, Seide und Federn. Warm und weich und so schön anschmiegsam, dass ich am liebsten mein ganzes Leben lang da dringeblieben wäre. Nach einer Weile haben wir noch mal von vorn angefangen. Sie verschlang mich mit den Augen. Sie war zärtlich, ganz damit beschäftigt, mir Gutes zu tun. Sie hat gesagt, dass sie schon seit langem von mir träumt. Das fühlt sich komisch an, wenn eine Frau so was zu dir sagt, vor allem, wenn sie dabei feuchte Augen und eine gurrende Stimme hat und ihre Hand sanft an dir rummacht.
    Es war fast peinlich. Aber auch sehr angenehm.

 
    A ls ich Annette kennengelernt habe, hatte ich mich noch nie so richtig mit einer Frau beschäftigt. Mädchen waren für mich entweder wie gute Freundinnen, und die rührt man nicht an, oder wie Papiertaschentücher, also sowieso egal. Darauf bin ich nicht stolz, und ich schäme mich auch nicht dafür, es war einfach so. Aber damit ist es aus und vorbei, diesen Germain gibt es nicht mehr, ein für alle Mal.
    Ich habe mich wirklich verändert. Seit ich Margueritte begegnet bin, arbeite ich an meinem Verstand. Ich stelle mir Fragen über das Leben und versuche, sie mir zu beantworten, indem ich darüber nachdenke, ohne zu schummeln. Ich denke über das Dasein nach. Darüber, was man mir am Anfang mitgegeben hat, darüber, was ich mir alles selbst beschaffen musste, im Nachhinein.
    Unter den neuen Wörtern, die ich entdeckt habe, sind mir zwei besonders hängengeblieben: angeboren und erworben .
    Es würde mir schwerfallen, sie im Detail zu erklären, ohne noch mal im Wörterbuch nachzuschauen, aber ich verstehe, worum es geht. Das Angeborene, das hat der Mensch schon, wenn er geboren wird, und das ist leicht zu behalten, weil es in dem Wort drinsteckt. Das Erworbene ist das, wofür man sich den Rest seines Lebens abrackert. Alles, was man sich rechts und links zusammenleihen muss, bei anderen. Aber bei wem?
    Gefühle zum Beispiel, die sind nicht angeboren, überhaupt nicht. Essen, Trinken, das ja: Das ist Instinkt. Wenn du es nicht tust, krepierst du. Aber die Gefühle, das sind Extras, da hast du die Wahl, du kannst sogar ganz ohne leben. Ich weiß das. Du lebst zwar schlecht, wie ein Idiot, kaum anders als ein Tier, aber du kannst lange so existieren. Sehr lange. Ich will nicht immer mich selbst als Beispiel nehmen, aber ich persönlich habe am Anfang nicht viel abbekommen in Sachen Liebe.
    In einer normalen Familie – soweit ich das beobachtet habe –, da wird manchmal geheult, manchmal geschrien, aber es gibt auch Zärtlichkeit, man wühlt dir durch die Haare, man sagt: »Der Kleine ist ja wirklich ganz der Vater!«, und macht dabei zum Spaß ein böses Gesicht, weil man im Grunde stolz ist, zu wissen, wo du herkommst. Genauso ist das, wenn Marco von seiner Tochter oder Julien von seinen beiden Jungs redet.
    Mein Problem ist, dass ich nirgendwo herkomme. Natürlich, ich bin aus einem Paar Eiern hervorgegangen, geht ja nicht anders. Und
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