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Das Labyrinth der Wörter

Titel: Das Labyrinth der Wörter
Autoren: Marie-Sabine Roger
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aus der Muschi einer Frau, wie jedermann hier auf Erden. Nur war bei mir, kaum dass ich auf der Welt war, schon alles Gute aus und vorbei. Deswegen sage ich: Gefühle sind etwas Erworbenes, man muss sie lernen. Wenn ich dafür etwas länger gebraucht habe als andere, dann deshalb, weil ich am Anfang kein Vorbild hatte. Ich musste alles allein rausfinden. Und was die Sprache angeht, ist es dasselbe, die habe ich vor allem auf Baustellen und in Kneipen gelernt, deshalb drücke ich mich schlecht aus – mit groben Wörtern, die die Dinge beschmutzen – und nicht immer in der richtigen Reihenfolge, wie es die gebildeten Leute tun: klein a , klein b , klein c .
    Landremont, Devallée oder der Bürgermeister, der Lehrer am Gymnasium ist – wenn die reden, dann merkt man, dass sie einen Gedanken fest an einem Ende gepackt haben.Sie brauchen ihn nur noch aufzurollen wie eine Angelschnur und ihm zu folgen, ohne loszulassen, bis sie am anderen Ende angekommen sind. »Den Faden nicht verlieren«, so nennt man das. Da kannst du dazwischenreden, unterbrechen, ihnen sagen: »Aber ich habe gehört …« oder: »Man behauptet, dass …« – nichts zu machen, sie halten ihren Kurs.
    Ich gerate immer durcheinander. Ich gehe von einer Sache aus, das bringt mich auf eine andere, und noch eine andere, und noch eine andere, und wenn ich fertig bin, weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte. Und wenn mir jemand ins Wort fällt, verheddere ich mich noch mehr, dann ist das Kuddelmuddel perfekt.
    Wenn es den gebildeten Leuten mal passiert, dass sie sich beim Reden verhaspeln, dann werden sie ganz blass. Sie legen den Zeigefinger an den Mund, ziehen die Stirn kraus und sagen: »So was aber auch … Verflixt, wo war ich stehengeblieben? Worauf wollte ich hinaus?«
    Und ringsherum schauen die Leute besorgt drein und halten die Luft an, als wäre etwas Schlimmes passiert.
    Der Unterschied zwischen ihnen und mir ist: Wenn ich den Faden verliere, dann ist das allen egal.
    Einschließlich und sogar zuallererst mir selbst.

 
    F rüher war ich fast Analphabet – wer weder lesen noch schreiben kann. Siehe: Unkundiger – , und ich schäme mich nicht dafür. Lesen, das ist etwas Erworbenes. Dem braucht man nicht hinterherzulaufen. Wenn du klein bist, schickt man dich zur Schule, um dich zu stopfen, mit Gewalt, wie bei den Gänsen.
    Manche machen das auf anständige Art, mit Fingerspitzengefühl, Geduld und allem. Sie schieben dir die Sachen sanft ins Hirn, bis du voll bist wie ein Ei. Aber es gibt andere, bei denen heißt es: Friss oder stirb! Sie stopfen dir alles in den Kopf, ohne zu überprüfen, wo es hingeht. Mit dem Ergebnis, dass du an einem winzigen Wissenskörnchen, das dir in der Kehle stecken bleibt, ersticken kannst. Dann willst du nur noch eins: ausspucken und in Zukunft lieber nichts mehr schlucken, als dich so schlecht zu fühlen.
    Mein Lehrer Monsieur Bayle war einer von der zweiten Sorte, ein Gänsestopfer. Er jagte mir eine Heidenangst ein. An manchen Tagen hätte ich mir in die Hose machen können, wenn er mich nur anschaute. Allein schon, wie er meinen Namen aussprach: » Chaazes  …!« Ich wusste, dass er mich nicht mochte. Er hatte sicher seine Gründe dafür. Für einen Lehrer ist ein beschränkter Schüler ganz schön nervig, das kann ich verstehen. Deshalb rief er mich jeden Tag an die Tafel, um sich abzureagieren. Ich sollte dort das Gelernte wiederholen.
    Und das vor den ganzen Schleimern, die sich mit den Ellbogen anstießen und mich hinter vorgehaltener Hand auslachten, und vor den Nieten, die sich darüber freuten, dass ich noch schlechter war als sie. Monsieur Bayle half mir nicht, im Gegenteil, er ließ mich jedes Mal richtig reinrasseln. Ein echter Fiesling. Ich kann ihn immer noch hören, ohne besondere Anstrengung: Seine Stimme hat sich mir fest ins Ohr gebohrt.
    »Nun, Chaazes , steht man wieder auf der Leitung?«
    »Tja, Chaazes , da fehlt es wohl an den Grundlagen!«
    »Unser Freund Chaazes ist heute Morgen wohl noch nicht ganz da!«
    Die anderen fanden das witzig.
    Dann fügte er hinzu: »Nun, Chaazes ? Ich warte! Ich warte, wir warten, Ihre Mitschüler warten …«
    Er rückte seinen Stuhl etwas zurecht, um sich besser zur Tafel drehen zu können, verschränkte die Arme und betrachtete mich kopfschüttelnd. Er tippte mit der Fußspitze auf den Boden, ohne ein Wort. Tapp, tapp, tapp  … Ich hörte nur noch dieses Geräusch und das Ticken der Wanduhr gegenüber, tick-tack,
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