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Das Königsmal

Das Königsmal

Titel: Das Königsmal
Autoren: Katrin Burseg
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seiner Mutter gelauscht. Wiebkes Gedanken wanderten zurück zu einer seltsamen Begegnung, die sie im vergangenen Sommer gehabt hatte, als sie hinten auf dem Feld bei der Ernte half. Zur Mittagszeit hatte sie sich zwischen den Brombeeren ausgeruht und dort von den Beeren genascht.
    Plötzlich hörte sie es hinter sich im dichten Gebüsch rascheln, und eine fremde Frau stand vor ihr. Die dunklen Augen und das lange schwarze Haar zeigten Wiebke, dass die Fremde dem umherziehenden Zigeunervolk angehören musste.
    „Wem gehört dieses Land?“, fragte die Frau.
    „Dem Bauern Henneke Kruse.“
    „Und wer bist du?“
    „Seine jüngste Tochter.“
    „Dann habe ich dich vielleicht früher schon einmal gesehen“, sagte die Zigeunerin lächelnd. „Du wirst dich nicht erinnern, aber ich habe dich nicht vergessen. Ein hübsches Mädchen bist du geworden, schlank und mit hohen Wangen und klugen Augen. Obwohl du nicht mehr das Mal auf deiner Stirn trägst wie damals. Das haben sie dir wohl bei der Taufe gründlich abgewaschen, bist ja jetzt ein gutes Christenkind. Gib mir deine Hand, damit ich sehen kann, ob ich damals richtig gelesen habe.“
    Überrascht gehorchte Wiebke und reichte ihr das von Brombeeren befleckte, klebrige Händchen.
    „Sieh an, sieh an, ein eigenes Haus und ein großes, prächtiges dazu“, rief die Fremde aus, als sie mit dem Zeigefinger aufmerksam die Linien in der kleinen Hand nachgezeichnet hatte. „Einen hohen Herrn wirst du heiraten. Aber Kind, du wirst weite Wege – helle und dunkle – gehen müssen, bis es so weit kommt und das Glück dich findet.“ Dann ließ sie erschrocken die Hand fallen und sah ihr ernst ins Gesicht.
    „Ich will dir nicht noch mehr prophezeien und dich ängstigen“, sagte sie. „Nur eins will ich dir raten. Vertrau auf deinen Verstand, denn um solche Wege zu gehen, wie sie dir bestimmt sind, gehört kluger Wille. Die beste Gefährtin der Klugheit aber ist die Wahrheit. Sprich deshalb, auch wenn es dir noch so schwer fällt, immer nur die Wahrheit. Sie wird dir in der Not weiterhelfen. Erzähle niemandem von mir, aber vergiss meinen Ratschlag nicht. Vielleicht begegnen wir uns noch einmal im Leben.“
    Kaum hatte die Zigeunerin diese Worte ausgesprochen, war sie wieder im Wald verschwunden, nur einige abgerissene Brombeerranken in der Böschung bewiesen Wiebke, dass die Erscheinung kein unheimlicher Zauber gewesen war. Das Mädchen saß noch eine Weile zwischen den Ranken, doch es hatte keinen Appetit mehr auf die Beeren. Stattdessen wirbelten die Gedanken in seinem Kopf herum. Was mochte das alles bedeuten? Sollte es seinen Eltern nicht doch von der Frau erzählen?
    Schließlich riefen die Frauen das Mädchen zur Arbeit zurück, und über die Wochen und Monate war die Erinnerung an die unheimliche Fremde schließlich verblasst. Erst die Erzählung der Mutter hatte Wiebke das Erlebnis wieder vor Augen geführt.
    Weite Wege soll ich gehen, dachte Wiebke. Wie soll das geschehen? Kein Mensch, den sie kannte, hatte Holstein je verlassen. Und wenn der Vater sie später als Magd in Stellung geben sollte, wäre sie doch auch nur wenige Meilen von zu Hause entfernt.
    Nein, sie konnte sich wirklich keinen Reim auf diese Worte machen. Verwirrt schüttelte Wiebke den Kopf, ihr wackeliges Versteck hatte sie in diesem Moment vergessen. Sofort prasselten Äpfel auf die Männer und Frauen unter ihr, die überrascht auseinanderfuhren.
    „Welcher Spatz treibt da sein Unwesen mit uns?“, rief Henneke Kruse lachend und versuchte, seine Tochter im dichten Laub ausfindig zu machen. „Wenn das Vögelchen flügellahm ist, kann ich’s wohl auffangen.“
    Als Antwort drang ein leises Glucksen vom Baum herunter, und dann tauchten nacheinander zwei dünne Beine aus dem Geäst auf. Vorsichtig rutschte Wiebke weiter nach unten und ließ sich dann in die Arme ihres Vaters fallen.
    „Der Spatz ist ja ein Apfelmädchen“, scherzte der Bauer und wirbelte das Mädchen durch die Luft, bevor er das über und über mit Blättern und kleinen Ästen bedeckte Kind ins Gras setzte.
    Vergessen waren die Zigeunerin, ihre Prophezeiung und alle düsteren Gedanken. Als sich die Familie wenig später um den Tisch versammelte, dufteten die Milchgrütze und das frische Brot. Nach dem Gebet kratzten Löffel eifrig über die hölzernen Teller. Frische Butter und kühles Bier wurden gereicht.
    Über das Dorf senkte sich Stille, seine Bewohner waren satt und zufrieden. Ruhig bahnte sich die Au ihren
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