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Das Knochenhaus

Das Knochenhaus

Titel: Das Knochenhaus
Autoren: Stephen Lawhead
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Formalität.
    Charles beugte den Rücken und senkte den Kopf, um einen Buckel vorzutäuschen, und als Zugabe tat er so, als würde er leicht hinken. Während er näher kam, lächelte er unterwürfig. Die Wachsoldaten an der Tür warfen ihm einen flüchtigen Blick zu, als er humpelnd in Sicht kam. Nickend und lächelnd verbeugte er sich einmal, zweimal, dreimal – wie man es vor Respektpersonen machen würde –, anschließend trat er zum Eingang des Grabmals. Als er die Stufen hochstieg, hörte er, wie einer der Wächter hinter ihm etwas aussprach – ein einziges Wort, das wie ein Befehl klang. Er wusste nicht, was gesagt worden war, dennoch blieb er stehen.
    Der Soldat erhob sich von seinem Feldstuhl und bewegte sich wackelig auf ihn zu. Charles drehte sich um, als der Wächter ihn zur Rede stellte. Er hob die Hand an sein Ohr und berührte es sanft mit seinem Finger, so wie ein Schwerhöriger es wohl machen würde. Der Soldat sprach erneut, und Charles, der sein Lächeln beibehielt, schüttelte den Kopf. Einer der neben der Tür stehenden Wächter sagte ein Wort zu seinem Kameraden und zeigte mit seiner Lanze dem Besucher an, er solle eintreten. Charles trat zur Schwelle, doch der andere Soldat legte ihm eine Hand auf die Schulter, drehte ihn wieder zu sich herum und nahm ihm dann die Weinbeeren fort, als wollte er seine Autorität zur Geltung bringen. Mit einem kurzen Anheben des Kinns befahl er anschließend dem alten Mann, das zu tun, wozu er hergekommen war.
    Direkt in der Kammer blieb Charles zunächst einfach stehen, damit sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnen konnten. Das wenige Licht, das in das Grab eindrang, kam von den Fackeln draußen an der Wand. Obwohl jeder Instinkt in ihm aufschrie, er solle sich beeilen, zwang er sich zu warten, bis er den Hügel aus Geschenken und Abgaben ausmachen konnte, der sich auf und um den steinernen Sarkophag von König Turms herum anhäufte. Das Marmorgehäuse selbst war ziemlich schlicht: eine große Kiste mit einem leicht gewölbten Deckel, die an den Seiten mit dem Namen und dem Titel ihres Bewohners geschmückt war und ein längliches Oval aufwies, das ein Relief enthielt. Es stellte eine Gestalt auf einem Thron dar, die von geflügelten Figuren in fließenden Gewändern begleitet wurde. Das war alles.
    Der Sarkophag war mit Blumengirlanden drapiert worden, wodurch das wohlriechende Ambiente eines Gartens erzeugt wurde. Grabbeigaben füllten die Ecken und häuften sich rundherum: Teller, Schüsseln und Kelche aus verzierter Keramik und gehämmertem Silber, versiegelte Amphoren, die mit Wein und Bier gefüllt waren, kunstvoll gestaltete Brotlaibe, Körbe mit Korn, ein Olivenbaum in einem Topf, geräuchertes Fleisch, Feigen in einer süßen Flüssigkeit, gewürzter Honig in Krügen und andere Leckerbissen, auf die eine hungrige Seele Lust haben mochte.
    Charles trat zu dem großen weißen Steinsarg und nahm die kurze Eisenstange aus seinem Bündel, das er bei sich trug. Mit einer durch Übung gewonnenen Effizienz steckte er das zugespitzte Ende des Werkzeugs in den Spalt direkt unter dem Deckel. Er hielt inne und lauschte auf die halb betrunkenen Wächter, die sich draußen miteinander unterhielten. Als er sicher war, dass ihre Aufmerksamkeit nicht auf das Innere der Grabkammer gerichtet war, legte er all sein Gewicht auf die Eisenstange. Es gelang ihm, den schweren Deckel weit genug hochzuheben, dass er ein zweites Werkzeug in den Spalt schieben konnte. Rasch hebelte er den Sargdeckel nach oben. Der Stein war schwer, und Charles benötigte seine ganze Kraft, doch schließlich schaffte er es, eine winzige Lücke aufzustemmen – gerade groß genug, um den letzten Gegenstand aus seinem Bündel hineingleiten zu lassen: ein dünnes Bruchstück Pergament, versiegelt zwischen zwei Platten aus Olivenholz.
    Er hätte es vorgezogen, bessere Werkzeuge einzusetzen und mehr Zeit zu haben, um diesen Gegenstand richtig zu verstecken, doch unter den gegebenen Umständen war beides ein Luxus, den er sich nicht erlauben durfte. Er spürte, wie das Paket in den Sarg hineinfiel, und mit einem Seufzer der Erleichterung senkte er behutsam den Deckel wieder nach unten und entfernte dabei die Werkzeuge. Schnell versteckte er sie: das eine unter einem Gerstensack, das andere in einem Korb mit Khakifrüchten. Dann verbeugte sich der Besucher respektvoll vor dem toten Bewohner des Sarges und verließ die Grabkammer.
    Als Charles wieder auftauchte, bestand einer der Soldaten an der Tür
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