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Das Knochenhaus

Das Knochenhaus

Titel: Das Knochenhaus
Autoren: Stephen Lawhead
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schien ihm warm auf den Rücken, und die Luft fühlte sich mild an; eine sanfte, seewärtige Brise strich über ihn hinweg. Vor ihm lag ein Land aus strahlendem Grün und Gold: die tiefe, lebendige smaragdgrüne Pflanzenwelt der Tropen und das leuchtende Gelb exotischer Blumen in verschwenderischer Überfülle. Gigantische Farne und Dattelpalmen stießen über das Grün hinaus; sie dehnten sich in einen Himmel aus, der so wunderbar blau war, dass es Kit beim bloßen Anblick schmerzte. Das ist der Himmel , dachte er. Oder zumindest die Vorstellung des Paradieses von irgendjemandem.
    Kit stand langsam auf und begann, ohne ein bestimmtes Ziel den ansteigenden Meeresstrand in Richtung Wald hochzugehen. Als er aus dem sandigen Streifen auf das weiche Gras trat, bemerkte er, dass seine Füße auf einem stark ausgetretenen Pfad waren. Es fühlte sich gut an, sich wieder aus eigener Kraft heraus zu bewegen, und so folgte Kit dem Weg, der sich in den Dschungel hineinschlängelte. Je weiter er ging, desto üppiger wurde das Blattwerk – verschwenderisch in der Vielfalt von Farben und Formen, die alle verschieden waren und das Auge erfreuten. Es gab Bäume mit Blättern, die wie kalkweiße Sterne oder rostige Fächer oder goldene Federn geformt waren; Palmwedel, die an Sägeklingen oder an zartes Spitzengewebe erinnerten; da waren Blumen, die einem Gestöber von Juwelen oder bunten Wolken ähnelten – oder von Friesen, die man mit einem nicht zu bändigenden Malerpinsel bespritzt hatte –; und es gab noch vieles andere mehr. Eine große Anzahl der Bäume, Sträucher und anderen Pflanzen trugen Früchte – in Kugeln, in Trauben, in Büscheln und Bündeln –, und das in einem geradezu ausgelassenen Überfluss. Alles, was Kit sah, war von einer so intensiven Wirklichkeit, so offenkundig gegenwärtig, dass es zu vibrieren und mit der treibenden Lebenskraft zu pochen schien – einer Kraft von solcher Stärke, dass sie gar schimmernd in die Luft entströmte, die er einatmete. Der ganze Wald schwang mit einem Klang mit, den Kit nicht vernehmen konnte, einem Klang direkt jenseits der Schwelle des Hörbaren: wie der letzte triumphierende Akkord einer Symphonie – nur dass er den Konzertsaal zu spät betreten hatte, um die Musik zu hören. Dennoch klangen die majestätischen Wellen von dem, was ein wunderbarer Ton gewesen sein musste, immer noch nach und zitterten in der Luft.
    Je weiter er spazierte, desto höher wuchsen die Bäume. Mal ging er durch Halbschatten voller Sonnenlichtsprenkel, mal durch Kühlung spendende Schatten. Er war zufrieden damit, dem Pfad zu folgen, wohin auch immer er führte. Und so marschierte er weiter, bis plötzlich die Bäume weit auseinanderstanden und er sich auf einer breiten Lichtung wiederfand. Er stand vor einem See, der aussah wie ... Glas? Oder Kristall?
    Nein, kein Glas – aber auch kein Wasser. Verwirrt trat Kit näher heran und kniete sich nieder, um es genauer zu untersuchen. Es war durchsichtig, schimmernd und flüssig. Zudem gab es ein schwaches milchiges Leuchten von sich: ein Teich aus flüssigem Licht. So unwirklich dies sonst überall auch gewirkt hätte – hier, an diesem Ort, fühlte es sich natürlich und richtig an.
    Kit streckte eine Hand aus, um die sanft glänzende Substanz zu berühren. Genau in dem Moment, als seine Finger beinahe unter die Oberfläche eingetaucht waren, hörte er ein Rascheln in den nahen Blättern und Zweigen. Er zog seine Hand zurück und entfernte sich vom Teichrand, um zu beobachten, was weiter geschehen würde. Das Blattwerk am Teichufer zitterte und wurde hin-und hergeworfen. Einen Moment später teilten sich die Wedel der Baumfarne – und heraus trat ein Mann von mittlerer Größe und gedrungenem Körperbau, mit dunklen Haaren und Augen und einem Bartschatten auf dem Kinn. Er trug ein weites weißes Hemd und dunkle Hosen, Stiefel und einen Gürtel. All dies bemerkte Kit irgendwie erst im Nachhinein, denn seine Aufmerksamkeit war ausschließlich auf die Last gerichtet, die der Mann trug: auf den schlaffen, leblosen Körper einer jungen Frau mit langem schwarzem Haar, ovalem Gesicht und Mandelaugen.
    Kits erster Gedanke war, dass die Frau schlief. Sie trug ein langes Gewand aus dünnem weißem Stoff, das zerdrückt und zerknittert war und im Halsbereich und unter den Armen Flecken aufwies, als ob dort mit der Zeit Schweiß getrocknet war. Dann bemerkte Kit die totenbleiche Färbung der Haut dieser Frau: aschgrau und wächsern – die Todesblässe
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