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Das Knochenhaus

Das Knochenhaus

Titel: Das Knochenhaus
Autoren: Stephen Lawhead
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den königlichen Weisen und Seher zu treffen. Auch jetzt würde das nicht geschehen, trotzdem war Charles froh, hier zu sein. Die Beerdigung des Königs dauerte den größten Teil des Tages, und er war rechtzeitig gekommen, um die Prozession mitzuerleben und ehrfürchtig unter den trauernden Untertanen zu stehen. Es war richtig, als Vertreter seiner Familie einem dahingeschiedenen langjährigen Freund seines Vaters und Großvaters die letzte Ehre zu erweisen. Charles gratulierte sich selbst dazu, richtig durch den Ley gereist zu sein und den Zeitpunkt seiner Ankunft genau justiert zu haben. Freilich wäre es besser gewesen, wenn er es geschafft hätte, sein Ziel zu erreichen, als Turms noch am Leben war; doch so, wie die Dinge standen, betrachtete er es als einen einzigartigen Sieg. Das Grabmal war unversiegelt und würde so für weitere sieben Tage bleiben, um den Trauernden zu ermöglichen, in der Kammer ihre Geschenke und Andenken abzustellen. Da Charles sich wie ein Landarbeiter jener Tage gekleidet hatte, erwartete er nicht, von den Soldaten behindert zu werden, die das Grab bewachten. Sofern sich irgendjemand um sein Erscheinen kümmerte – er war nur ein weiterer Bauer vom Lande, der sich eingefunden hatte, um in aller Bescheidenheit dem Verstorbenen die letzte Ehre zu erweisen. Seine schlichte Gestalt und seine unscheinbaren Gesichtszüge, verbunden mit einem ganz und gar bescheidenen Auftreten, ermöglichten es ihm oft, sich unbemerkt durch die verschiedenen Welten zu bewegen, die er besuchte. Darüber hinaus hatte er herausgefunden, dass nur wenige Menschen mit Autorität jenen Leuten Aufmerksamkeit schenkten, die sie als ihnen untergeordnet betrachteten. Daher hatte er, um seinen niedrigen Status zu betonen, sein Haar kurz geschnitten und seinen Bart ein paar Tage unrasiert gelassen, was ihm eine grauhaarigere, bäuerische Erscheinung verlieh.
    Wenn ihm diese Nacht das Glück hold war, würde er einmal mehr unbemerkt durchgehen. Charles hoffte, dass er nicht zu den Wachen würde sprechen müssen – oder, was schlimmer wäre, dass er sie nicht bestechen müsste, damit sie ihn ins Grabmal ließen.
    Charles hielt in der einen Hand eine Ranke mit Weinbeeren und drückte mit der anderen das Bündel mit den Grabgeschenken an die Brust, während er die lange Treppe hinunterstieg. Sie führte zu dem weit unten liegenden Weg, der tief ins Kalktuffgestein gehauen worden war und weit unterhalb der Oberfläche der ihn umgebenden Landschaft lag. Er ging weiter, wobei sein Weg unregelmäßig von Fackeln erhellt wurde. So schritt er von einem Lichtkreis zum nächsten voran, bis er einen Ort erreichte, wo ein Eisenbecken mit glühenden Kohlen vor einem kunstvoll ausgearbeiteten Türdurchgang aufgestellt worden war. Das Grabmal hatte man erst weiß getüncht und dann rot, grün und golden bemalt: ein Kennzeichen für ein königliches Begräbnis. Der Türdurchgang war mit weißen Blumen geschmückt; und kleine rote Wimpel hatte man an Schnüren aufgereiht, die von oben an den Kalktuffwänden bis zum Anfang des Heiligen Weges gezogen waren.
    Zu beiden Seiten der Tür stand jeweils eine Wache – die Männer gähnten und stützten sich auf ihre langen Lanzen –, und drei weitere saßen auf Feldstühlen, die quer über den Weg zusammen mit einem Tisch aufgestellt worden waren. Die Überreste des Begräbnismahls ebenso wie Lebensmittel-und Weingeschenke lagen hoch aufgestapelt in Körben, die entlang der Wände und Stufen standen, die zum Grabmal führten. Die Wächter, die Becher in Händen hielten, hatten sich offenkundig am Wein, Brot und Zuckerwerk bedient. Warum auch nicht? Es gab keine Gefahr durch Diebe oder Grabräuber. Turms der Unsterbliche war ein gerechter und verehrter König gewesen, wohlbeliebt beim Volk; und er hatte ein außerordentlich langes Leben geführt. Seuchen, Dürrezeiten und Kriege hatte er überlebt – und in jeder Generation die stets gleichen unheilvollen Taten der Herrscher. Er hatte lange genug gelebt, um sich an dem seltensten aller Elixiere zu erfreuen: der liebevollen Zustimmung treu ergebener Untertanen. Selbst unter seinen Feinden, den kriegerischen Latinern, war Turms der Unsterbliche berühmt als Weiser und Seher von außergewöhnlicher Macht. Jeder Dieb, der dumm genug wäre, um zu wagen, etwas aus diesem Grabmal zu stehlen, würde vom Mob in Stücke gerissen – so hoch war die Wertschätzung für den verstorbenen König. Die Anwesenheit von Wächtern war eine bloße
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