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Das Kind des Schattens

Titel: Das Kind des Schattens
Autoren: Guy Gavriel Kay
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Ein Grund zur Freude.
    Dann aber, als ich von den hohen Bergen im Westen von Larak nach unten blickte, hörte ich, wie das Schreien begann. Der Regen erreichte die Berge nicht, aber auf den darunterliegenden Hängen konnte ich die Hirten mit ihren Ziegen und Schafen sehen, und ich hörte, dass sie schrien, als der Regen fiel, und ich sah, dass sich riesige schwarze Beulen auf Tieren und Menschen bildeten und dass sie aufsprangen, als sie starben.«
    Seherinnen konnten – und mussten sogar auf Grund ihrer Begabung – hinter den Worten zu den Bildern vordringen, die in den Schlingen der Zeit hingen. So sehr sie sich auch bemühte, Kims zweites inneres Gesicht erlaubte es ihr nicht, von dem Bild wegzublicken, das in Faeburs Worten enthalten war. Und als die Zwillingsseele mit ihren beiden Erinnerungszügen wusste sie sogar noch mehr, als Faebur wusste. Denn Ysannes Kindheitserinnerungen waren die ihrigen, sie waren nur noch klarer, und sie wusste, dass der Regen einst in einer fernen dunklen Zeit geschaffen worden war und dass die Toten für alle, die sie berührten, tödlich waren und deshalb nicht begraben werden konnten.
    Und das hieß … Pest. Selbst nachdem der Regen aufgehört hatte.
    »Wie lange hat er gedauert?« fragte sie plötzlich.
    Ceriogs scharfes Gelächter machte ihr ihren Fehler bewusst und öffnete eine neue, noch tiefere Ader des Schreckens, noch bevor er zu sprechen begann. »Wie lange?« schnappte er, und seine Stimme wirbelte verloren umher. »Weißes Haar sollte doch mehr Weisheit bringen. Schau nach Osten, dummes Weib, schau hinauf zum Tal des Kharn. Schau vorbei am Kath Meigol und sage mir, wie lange es gedauert hat!«
    Sie blickte hinauf. Die Bergluft war dünn und klar, die Sommersonne strahlend hell. Sie konnte von diesem Hochplateau weit sehen, fast bis nach Eridu.
    Sie konnte erkennen, wie sich die Regenwolken im Osten der Berge auftürmten. Der Regen hatte nicht aufgehört. Und sie wusste so sicher, wie sie nur irgend etwas wissen konnte, dass er in ihre Richtung kommen würde, wenn er nicht aufgehalten werden würde. Über den Bergrücken von Carnevon und den Skeledarak nach Brennin, Cathal, die weite Ebene der Dalrei und dann natürlich zu jenem Ort, wo Rakoths unsterblicher Hass sich konzentrierte … nach Daniloth, wo die Lios Alfar wohnten.
    Ihre Gedanken waren in Schrecken gehüllt, sie schwangen sich hinweg zum Westen, weit jenseits des Landes, über das Meer, wo ein Schiff zu einem Ort des Todes segelte. Es hieß Prydwen, so wusste sie. Sie wusste die Namen vieler Dinge, aber nicht alles Wissen war auch Macht. Jedenfalls nicht angesichts des Übels, das von diesem dunklen Himmel im Osten herabfiel.
    Kim fühlte sich hilflos, voller Angst, und sie drehte sich zurück zu Ceriog. Dabei wurde sie gewahr, dass der Baelrath auf ihrer Hand glimmte. Auch das verstand sie: Der Regen, der ihr gerade eben gezeigt worden war, war ein Akt des Krieges, und der Kriegsstein reagierte. Unauffällig drehte sie den Ring nach innen und schloss ihre Hand, so dass er nicht gesehen werden konnte. »Du wolltest wissen, was die Zwerge getan haben, und jetzt weißt du es«, sagte Ceriog, und seine Stimme war tief und bedrohlich.
    »Nicht alle Zwerge!« widersprach sie und setzte sich mühsam auf, der Schmerz, den dies verursachte, machte sie keuchen. »Hör mir zu! Ich weiß mehr darüber als du. Ich …«
    »Ohne Zweifel weißt du mehr darüber, da du ja mit einem von ihnen zusammen reist. Und du wirst mir davon erzählen, bevor wir auch mit dir fertig sind. Aber der Zwerg kommt zuerst dran. Ich freue mich zu sehen«, fügte Ceriog hinzu, »dass er nicht tot ist.« Kim riss ihren Kopf herum. Sie schrie auf. Brock stöhnte, seine Hände bewegten sich kaum merklich. Was sie damit riskierte, kümmerte sie nicht, sie kroch hinüber, um ihm zu helfen. »Ich brauche saubere Tücher und heißes Wasser!« rief sie. »Schnell!«
    Keiner bewegte sich. Ceriog lachte. »Es scheint«, sagte er, »dass du mich nicht verstanden hast. Ich freue mich, dass er noch lebt, weil ich beabsichtige, ihn mit großer Sorgfalt zu töten.«
    Nun begriff sie, und da sie begriff, konnte sie ihn nicht länger hassen … Es schien, dass klare, unkomplizierte Herzenswünsche für sie nicht erlaubt waren. Dies war auch nicht weiter erstaunlich, wenn sie daran dachte, wer sie war und was sie mit sich trug.
    Sie konnte nicht mehr hassen, noch konnte sie ihr Mitleid für einen Menschen, dessen Volk so vollständig vernichtet wurde,
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