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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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sage ich und spüre, dass ich wider Willen grinsen muss.

    Für unser Abendessen hat sie ein Restaurant ausgewählt, das ich noch nicht kenne. Es liegt etwas abseits,
am Rand des Hafens, und ist angeblich, wie ich bereits weiß, das teuerste und beste Restaurant des gesamten Bezirks. Vom Erdgeschoss führt eine leicht geschwungene Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich ein großer Essraum befindet, von dem aus man hinaus auf die breite Terrasse tritt. Auf dieser Terrasse gibt es nur wenige Tische, es sind die Königstische des Restaurants, und Adriana hat dafür gesorgt, dass wir unter diesen Königstischen den Besten bekommen. Wir sitzen links außen, wir übersehen den ganzen Hafen, während man unseren Tisch vom Essraum aus nicht zu sehen bekommt. Als wir Platz nehmen, ist mir nicht wohl, die Szene hat etwas sehr Intimes, und am liebsten würde ich den schweren Kerzenständer, der sich in der Mitte des Tisches enorm aufspielt, gleich entfernen.
    – Erlauben Sie mir ausnahmsweise, für uns beide zu bestellen? fragt Adriana (und ich kann sie nicht anschauen, so perfekt sitzt sie da: perfekt durch die Kerze beleuchtet, perfekt vor dem stillen Hafenbild mit all seinen Laternen und Lämpchen).
    – Gerne, antworte ich, ich bin gespannt.

    Sie bestellt als Aperitif zwei Gläser Champagner und erklärt nebenbei, dass wir keine Karte benötigen. Mit jedem Satz und jeder Geste signalisiert sie, dass sie hier bereits oft gegessen hat und sich gut auskennt. Die Kellner duzen sie, und sie duzt die Kellner ebenfalls, nach der Bestellung des Aperitifs verschwindet sie in der Küche, um vor Ort nach den frisch eingetroffenen Fischen zu schauen.
    – Mit Austern und Schalentierchen haben Sie doch sicher keine
Probleme? fragt sie noch rasch, bevor sie verschwindet.
    – Nein, habe ich nicht, sage ich.
    – Na, dann beginnen wir mit einer Meeresplatte, Austern und Schalentierchen auf Eis! ruft sie und geht.

    Ich spüre weiter etwas Beengendes, Verrücktes, als gehörte ich absolut nicht hierher und hätte gerade eine Rolle in einem Film übernommen. Ich bin der Mann, der verführt werden soll, und die junge Frau, die mich mit Meeresplatten auf Eis ködert, wird sich nun mehrere Stunden Mühe geben, genau das zu erreichen. Ich versuche, solche Gedanken beiseite zu schieben und der Szene mehr Harmlosigkeit anzudichten, es gelingt aber nicht. Warum sie es ausgerechnet auf mich abgesehen hat, will mir nicht einleuchten, warum sitzt sie nicht hier mit einem der jungen Männer Mandlicas, die bestimmt von ihr träumen und sich nichts sehnlicher wünschen, als mit ihr einen Abend zu verbringen? Außerdem weiß sie natürlich, dass ich mit Paula verlobt bin, vielleicht sollte ich von meiner Verlobung oder von Paula sprechen, sollte ich das? – soll ich? Nein, ich finde das übertrieben, ja, es erscheint mir sogar leicht spießig und altmodisch.

    Adriana kommt lachend und gut gelaunt aus der Küche zurück, und sie wird von einem Kellner begleitet, der die beiden Gläser Champagner serviert. Wir stoßen an, und ich überlege krampfhaft, mit welchem Thema ich die aufkommende Nähe zurückdrängen könnte. Ich koste den Champagner, er ist genau richtig gekühlt und schmeckt
vorzüglich. Der winzige Schluck versetzt mir sogar einen kleinen Stoß und bringt mich damit auf eine gute Idee: Ethnologie! Ich werde über das Fach Ethnologie sprechen und zu einem längeren Vortrag ausholen, ich werde die Vor-und Nachteile eines Studiums mit ihr diskutieren und sie nach den Lektüren der von mir empfohlenen Bücher befragen. Sehr gut, das ist es : Ich werde die Rolle eines geduldigen, aber über den Dingen (und damit auch über den Meeresplatten) stehenden Lehrers spielen. Am Champagner werde ich nur nippen, am Wein auch, von den Meeresplatten werde ich nicht allzu viel nehmen. Ich setze an, ich bringe das Thema Ethnologie ins Spiel, da legt sie ihre rechte Hand auf meine linke und sagt:
    – Signor Merz, ich habe die von Ihnen empfohlenen Bücher gelesen.
    – Ah, so schnell? Das freut mich.
    – Und ich muss Ihnen gleich etwas gestehen.
    – Sie fanden sie langweilig?
    – Nein, das nicht. Sie haben mir sogar sehr geholfen.
    – Geholfen? Inwiefern?
    – Seien Sie aber jetzt bitte nicht allzu enttäuscht.
    – Aber nein, reden Sie nur!
    – Ich werde das Fach Ethnologie nicht studieren, auf keinen Fall! Das Fach Ethnologie ist nichts für mich, es verlangt zu viel Geduld und zu viel Sitzfleisch, und beides habe ich nicht. Ich werde auch nicht
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