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Das Kind, Das Nicht Fragte

Das Kind, Das Nicht Fragte

Titel: Das Kind, Das Nicht Fragte
Autoren: Hanns-Josef Ortheil
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werde ich die Archive der Stadt vermehrt aufsuchen und die Gespräche noch gezielter fortsetzen. (Ich rechne am Ende mit ca. tausend Gesprächen.)

    Manchmal erinnern mich meine Forschungen an die Kindertage, in denen ich in meinem Zimmer saß und mit bunten Bauklötzen sowie viel Pappe und Papier kleine
Dörfer und Städte baute. Für diese Orte erfand ich fremde Namen und erzählte mir kurze Geschichten, ich imitierte die Gespräche der Bewohner und verbrachte Stunden damit, mir ihre Tagesabläufe vorzustellen. Später habe ich solche Gespräche und Ideen sogar in Schulheften protokolliert, wodurch meine Fantasien mit der Zeit etwas seltsam Reales erhielten. In dieser Spielrealität war ich vor meinen Brüdern sicher, denn sie tauchten in ihr niemals auf.

    Meinen Brüdern und auch meinen lieben Eltern gegenüber verschwieg ich diese Spielereien, während andererseits das ewige Schweigen und Verschweigen die Ursache eines umso bemühteren Schreibens und Protokollierens wurden. Etwas aufzuschreiben – für das Kind Benjamin bedeutete das, dem Fantasierten eine eigene Wahrheit zu verleihen. Die Fantasien existierten , jederzeit konnte ich ihre Existenz beweisen, indem ich meine Schulhefte aufschlug und beobachtete, wie sie sich vermehrten und wuchsen. (Und ganz ähnlich ist es noch jetzt: Ich überblicke meine Notizen und Hefte und beweise mir, dass dieses seltsame Ich mit Namen Benjamin Merz wahrhaftig existiert. )
    Mein Schreiben und Arbeiten ist als eine Notwehr gegenüber den Machtansprüchen meiner vier Brüder entstanden. Heimlich habe ich mich gegen sie gewehrt und mir eigene Lebenswelten geschaffen. Keines meiner Schulhefte haben sie je gesehen, und von keiner einzigen meiner vielen Fantasien haben sie je gehört. Als sie älter und nicht mehr mit mir beschäftigt waren, redeten sie
jedoch häufig davon, wie fleißig ihr jüngster Bruder gewesen sei, dabei hatten sie diesen angeblichen Fleiß niemals mit eigenen Augen gesehen. Sie wussten nur, dass ich viel Zeit in meinem Zimmer verbracht hatte, und wer so etwas tat, war entweder ein Schwachkopf (so die früheren Versionen meiner Brüder) oder eben fleißig (so die späteren Versionen).

    Das Seltsame ist, dass meine Brüder die Zeit, die wir als Kinder miteinander verbracht haben, nach ihrem Verschwinden aus unserem Elternhaus allmählich vergaßen und schönredeten. (Wahrscheinlich war das Schönreden eine Form des Vergessenwollens – so vermute ich jetzt.) An das, was sie mir angetan hatten, erinnerten sie sich nicht mehr in den Details, oder sie machten aus den nur noch halb erinnerten Details niedliche Erinnerungsstücke. Erinnerst Du Dich noch daran, wie wir Dir immer den Ball weggeschnappt und dann die Luft rausgelassen haben? –so eine der typischen Fragen, auf die dann das scheppernde Lachen der Vierer-Bande und ein aufmunternder Blick auf den kleineren Bruder folgten. An Martins vierzigstem Geburtstag unterhielten sie die halbe Festtagsgesellschaft mit solchen Erzählungen, und ich hörte lächelnd zu, bis Martin mich am Ende fragte: – Wir waren ein lustiger Haufen, habe ich recht, Benjamin?
    – Ja, Ihr wart lustig, antwortete ich, lustig, eklig und fies. Aber ich werde es Euch schon noch zeigen.
    – Er wird es uns zeigen! rief Martin (und alle lachten).
    – Benjamin, Du bist köstlich! jauchzte Andreas.

    Alles, was ich je zu ihren Erzählungen über unsere gemeinsame Kindheit und Jugend sagte, passte letztlich in ihr Bild von einem Bruder, der etwas zurückgeblieben war, es aber letztlich doch gut gehabt hatte. Sie hatten mich vielleicht gehänselt oder gefoppt (typische Lieblingsworte ihres fortschreitenden Alterns), mich aber gerade durch dieses Hänseln und Foppen besonders rührend umsorgt.
    – Wir haben uns immer um Dich gekümmert, sagt Josef bei jeder Gelegenheit.
    – Ihr wart immer in meiner Nähe, das stimmt, antworte ich.

    Mit den Jahren haben sie unsere gesamten frühen Jahre zu einer einzigen großen Fantasie umdekoriert. In ihr sitzen die lieben Eltern mit ihren fünf Kindern am Tisch, beten fromm vor jeder Mahlzeit, verteilen die Speisen gerecht und sind Meister in der Kunst, alle Kinder ins Tischgespräch einzubeziehen. Hinterher stehen die vier ältesten Kinder beinahe gleichzeitig auf, spielen die Cartwright-Brüder aus der Serie Bonanza und verschwinden auf ihren Gäulen, um ein paar Pferdedieben aufzulauern und sie zu bestrafen. Als fünftes und leicht beschädigtes Kleinkind bleibt Benjamin zu Hause bei Mama und Papa
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