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Das Karpatenschloß

Das Karpatenschloß

Titel: Das Karpatenschloß
Autoren: Jules Verne
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    eine Strecke von 400 bis 500 Toisen (780 bis 975 Meter) aus-
    dehnte und dabei den Wellenlinien des Erdbodens folgte.
    An jeder Ecke eine ausspringende Winkelbastion, von de-
    nen die rechts gelegene – auf der auch die berühmte Bu-
    che stand, noch ein kleines Wachthäuschen oder mehr eine
    Art Schilderhaus mit spitzem Dach trug; links erhoben sich
    mehrere von durchbrochenen Strebepfeilern gestützte Mau-
    ern und diese überragte das Türmchen einer Kapelle, deren
    gesprungene Glocke zum Entsetzen der Bewohner der gan-
    zen Umgebung ertönte, wenn die Stöße des Sturmwinds sie
    in Bewegung setzten; in der Mitte endlich erhob sich das
    Schloß, gekrönt von einer zinnenumschlossenen Plattform,
    mit drei übereinanderliegenden Reihen von Fenstern, de-
    ren Scheiben in Blei gefaßt waren und deren unterste Reihe
    ein runder, terrassenartiger Balkon begleitete; auf der Platt-
    form war schließlich eine hohe Metallstange errichtet, an
    deren Spitze das Kennzeichen der Feudalherrschaft, ein
    halb vom Rost zerfressener Wetterhahn, sich knarrend im
    Wind drehte.
    Niemand hatte eine Ahnung davon, was jene da und dort
    zerfallene Umfassungsmauer umschließen mochte, und ob
    sich im Innern des Schlosses noch ein bewohnbarer Raum
    befand, ebensowenig, ob vielleicht eine Zugbrücke und ein
    Ausfalltor noch den Zutritt gestatteten. Obwohl das Karpa-
    tenschloß tatsächlich besser erhalten war, als es sein Aus-
    sehen verriet, schützte es noch heute eine Art ansteckende
    Scheu, verstärkt von dem ländlichen Aberglauben ebenso
    gut, wie es früher nur seine Donnerbüchsen, Feldschlangen,
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    Bombarden, seine Mörser und andere Artilleriemaschinen
    vergangener Tage geschützt hatten.
    Und doch hätte das Karpatenschloß den Besuch von
    Touristen und Altertumsfreunden gewiß gelohnt. Seine
    Lage am Rand der Hochfläche des Orgall war ausnehmend
    schön. Von der oberen Plattform des Wartturms kann der
    Blick ungehindert bis zu den entferntesten Linien der Berg-
    züge hinausschweifen. Im Hintergrund verläuft die hohe
    wellenförmige und launenhaft verzweigte Kette, die die
    Grenze der Walachei bezeichnet. Davor höhlt sich das ge-
    wundene Tal des Vulcan aus, durch das die einzige gangbare
    Straße zwischen den Grenzprovinzen hinführt. Jenseits des
    Tals der beiden Sil liegen die Ortschaften Livadzel, Lonya,
    Petroseny und Petrilla, die alle an den Mündungen der
    hier ausgebeuteten reichen Kohlengruben gewachsen sind.
    Schon fast am Horizont liegen in malerischem Durchein-
    ander verschiedene hohe Berggipfel aufeinander gesattelt,
    die am Fuß bewaldet, an den Seiten noch grün bedeckt und
    ganz oben kahl und öde sind und die von den steilen Gip-
    feln des Retyezat und des Paring* beherrscht werden. Noch
    weiter schließlich als das Tal des Hatszeg und der Lauf des
    Maros grüßen die im Höhendunst verschwimmenden Pro-
    file der mittleren transsilvanischen Alpen herüber.
    In der trichterförmigen Mitte dieses Gebiets glänzte
    früher ein Binnensee, in den sich die beiden Sile ergossen,
    * Der Retyezat erhebt sich 2.496, und der Paring 2.414 Meter über
    die Meeresfläche.
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    bevor sie sich einen Ausweg durch die Bergmauer gebro-
    chen hatten. Jetzt bildet die Landstrecke nur eine gewal-
    tige Kohlenlagerstätte mit all ihren Vorzügen und Nachtei-
    len. Hochaufgemauerte Schornsteine vermischen sich mit
    dem Astwerk von Pappeln, Tannen und alten Buchen; ihr
    schwärzlicher Qualm verpestet die Luft, die früher von er-
    frischendem Duft der Fruchtbäume und Blumen gesättigt
    war. Zu der Zeit, wo diese Erzählung spielt, hatte der Mi-
    nenbezirk, obwohl ihn die Industrie in ihrer eisernen Hand
    hielt, noch nichts von der ihm von der Natur verliehenen
    Wildheit verloren.
    Das Karpatenschloß stammt aus dem 12. oder vielleicht
    aus dem 13. Jahrhundert. Unter der Herrschaft der Häupt-
    linge oder Woiwoden jener Zeit, trachteten Klöster, Kirchen,
    Paläste und Schlösser nicht minder wie Flecken und Städte
    danach, sich eine Befestigung zu schaffen. Herrenleute und
    Bauern hatten sich gegen Angriffe aller Art zu wehren.
    Diese Umstände erklären es, daß der alte Wall der Burg, ihre
    Bastionen und der Wartturm das Aussehen eines Feudalsit-
    zes erlangten, bei dem alles für eine wirksame Verteidigung
    vorgesehen war. Den Baumeister, der an dieser Stelle, in so
    gewaltiger Höhe einst die Mauern der Burg errichtet hatte,
    kennt niemand; nach unverbürgter Überlieferung soll es
    der Rumäne Manoli
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