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Das juengste Gericht

Das juengste Gericht

Titel: Das juengste Gericht
Autoren: Udo Scheu
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reichte ihr aufgrund ihrer überdurchschnittlichen Körpergröße gerade bis zum Bauchnabel.
    Was für eine Aussicht!
    Ihr Blick schweifte in die Tiefe und verursachte ihr ein krampfartiges Ziehen im Bauch. Was wäre, wenn sie jetzt schnell die Beine über das Geländer heben würde und sich dann einfach fallen ließe? Leben, so hatte sie in Indien gelernt, bedeutete ein ständiges Abschiednehmen.
    Nichts auf dieser Welt würde sich ändern, niemanden würde ihr Tod berühren. Höchstens ihrer kleinen Schwester würde sie fehlen. Vielleicht sogar dieser anderen Unperson, an deren Namen und Aussehen sie nicht erinnert sein wollte.
    Sie richtete den Blick nach vorn. Sie schaute auf die endlose Kette von regennassen Dächern und Türmen, die sich irgendwo am näher gerückten Horizont in den schwarzgrauen Wolken verloren, wie von einem Staubsauger verschluckt. Das erinnerte sie an die Berge im Himalaya. Wie oft hatte sie von da oben auf die Dächer von Leh geschaut.
    Mit dem Unterschied, dass sie da noch glücklich gewesen war. Langsam nahm sie ihre Hände vom Geländer und spürte, wie das flaue Gefühl in ihrem Inneren wiederkehrte. Mit beiden Füßen stellte sie sich auf das flache Mäuerchen, worin das Geländer verankert war.
    Dann überschlugen sich plötzlich die Ereignisse. Sunita fühlte sich an den Beinen hochgehoben, spürte gleichzeitig einen heftigen Kopfschmerz, vollzog eine Rolle vorwärts, wie um eine Reckstange geschlungen, und stürzte mit einem lang gezogenen Schrei in die Tiefe.
    Als Sunita mit dem Kopf auf dem Pflaster der Zeil aufschlug, hörte alles Denken abrupt auf. Ihre Ängste waren ausgestanden, ihre Schmerzen vorbei.
    Sunita war sofort tot.
    Ihre Armbanduhr war durch den Aufprall auf 9:11 Uhr stehen geblieben.

2. Kapitel
    Phillip Krawinckel stand im Ankleidezimmer seiner Bad Homburger Villa, zog den Ärmel seines Designeranzugs zurück und schaute auf die Armbanduhr. Ein zufriedenes Lächeln überflog seine Lippen. Noch einmal zupfte er an seiner Seidenkrawatte und warf einen prüfenden Blick auf seine spitz gefeilten, farblos lackierten Fingernägel.
    Als er aus der Tür trat, lief er Mike Kellermann in die Arme.
    »Vielen Dank, dass Sie mir die Sachen zum Umziehen herausgelegt haben. Dadurch bin ich gerade noch rechtzeitig fertig geworden, bevor die ersten Gäste eintreffen. Ich habe bei meinem Stadtbummel zu viel Zeit vertrödelt, und jetzt ist es schon 12:15 Uhr.« Kellermann machte eine ruckartige Bewegung mit dem Hals, als sei ihm der goldene Kragen seiner weißen Livree zu eng. »Das ist kein Wunder. Heute ist Allerheiligen. Da ist die Innenstadt übervoll von Pendlern aus den benachbarten Bundesländern. Ich geleite Sie nach unten. Es ist alles gerichtet.«
    Auf der halbrunden Marmortreppe warf Krawinckel mehrmals einen Blick in die barocken Wandspiegel, um sein Aussehen zu kontrollieren. Er bückte sich und entfernte mit den Fingerspitzen eine Fluse von seinen schwarzen Lackschuhen. »Wie viele Gäste haben wir heute?«
    Mit den Innenflächen seiner Hände glättete Kellermann den Sitz seiner ölig schimmernden dunklen Haare, die er zur Betonung seines kantigen Gesichts locker nach hinten gekämmt trug.
    »Es sind heute zweiunddreißig Leute. Fast nur Männer, wie üblich. Ich habe davon abgesehen, Ihnen eine Liste schreiben zu lassen, da Sie alle heutigen Gäste kennen. Sie kommen aus Politik und Wirtschaft. Bei der morgigen Runde wird das anders sein. Da sind die Kulturträger und Künstler dran.«
    Die beiden Männer erreichten ein mit Carrara-Marmor gefliestes, mit orientalischen Teppichen ausgelegtes Foyer, das mit zahlreichen runden Stelltischen bestückt war. Gegenüber vom Eingangsbereich waren auf einem Längstisch mit barocken Füßen alle Vorbereitungen für ein Büffet getroffen. Die auf zahlreichen Brennern abgestellten Wärmebehälter blinkten silbern.
    Am Ende des Tisches erhoben sich wie eine Säule ein Stoß von hochwertigen Porzellantellern und ein in sich versetzter Stapel weißer Tuchservietten. Mehrere fünfarmige Silberleuchter mit weißen Kerzen und mächtige Sträuße weißer Rosen rundeten das Bild ab. An den Wänden dominierten zahlreiche zeitgenössische Bilder und Skulpturen. Die hintere Fensterfront gab den Blick in einen angrenzenden Park frei.
    »Perfekt«, sagte Krawinckel. »Nur meine Frau fehlt noch, um das Bild zu vervollständigen.«
    Wieder drehte Kellermann mit einem Ruck den Kopf zur Seite.
    »Die gnädige Frau hat von unterwegs angerufen und
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