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Das juengste Gericht

Das juengste Gericht

Titel: Das juengste Gericht
Autoren: Udo Scheu
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geregnet. Erst mit Anbruch des Tages beruhigte sich das Wetter. Doch zogen nach wie vor dunkle Wolkenmassen über die Innenstadt von Frankfurt hinweg. Ein schneidend kalter Wind trieb sie vor sich her. Eine hellgraue Dunstglocke schien die oberen Stockwerke der Hochhäuser im Bankenviertel verschluckt zu haben. Nur noch einige zaghaft durch den Wassernebel blinkende rote Lämpchen deuteten die tatsächliche Höhe an.
    Es war kurz vor neun Uhr. Das Mädchen schaute sich um. Hinter den frisch geputzten Glastüren der großen Warenhäuser trafen die Angestellten letzte Vorbereitungen an den Verkaufstischen. Schon jetzt warteten Menschentrauben fröstelnd darauf, eingelassen zu werden. Sie hatten, wie alljährlich an diesem Tag, zu einem großen Teil schon eine längere Anreise aus RheinlandPfalz oder Bayern hinter sich. Dort war heute, anders als in Hessen, Feiertag, den die wartenden Menschen zu einem Einkaufsbummel nutzen wollten. Als sich die Türen endlich öffneten, drängten sich alle mit einer Wucht in die Eingangsbereiche, als gelte es, eine unwiederbringliche Gelegenheit zu ergreifen.
    Zwischen den Warenhäusern und den rechts und links der Fußgängerzone entlanglaufenden Platanenreihen nahmen die ersten Bettler ihre Stammplätze ein, stellten ihre Pappschilder mit den Almosenbitten auf und schützten die neben ihnen liegenden Haustiere mit einer Decke gegen das feuchtkalte Wetter. Ein Dudelsackspieler nestelte an seiner Strumpfhose, die er vorsorglich unter den Kilt angezogen hatte, um sein Publikum möglichst ohne längere Unterbrechungen mit seinem Standardlied »Amazing Grace« zu erfreuen.
    Von diesen Vorgängen unbeeindruckt schlenderte das junge Mädchen aus der Richtung der Konstablerwache die Zeil entlang auf die Hauptwache zu. Sie ließ den Kopf hängen und seufzte. Mehrmals krallte sie die Fingernägel in die Innenflächen ihrer Hände. Dabei holte sie ein paar Mal zu kurzen abgehackten Schritten aus, als müsse sie einige im Weg liegende Gegenstände zur Seite treten.
    An einem Laden für junge Mode blieb sie eine Weile vor einem bodenlangen Spiegel stehen und betrachtete sich. Ihr kräftiges Haar, der braune Teint, der rosa Blouson und die strassbesetzten Jeans, alles sah sehr harmonisch aus. »Sunita, du siehst nicht schlecht aus«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. Es geschah wohl nicht nur aus Höflichkeit, wenn ihr mit zunehmendem Alter immer mehr Jungen nachschauten und ihr Komplimente machten.
    Gedankenverloren wandte sie sich ab und ging langsam weiter, den Blick auf die noch immer nassen Pflastersteine gerichtet. Alles könnte so schön sein, wenn nicht …
    Drei Jahre war es nun her, seit sie aus Indien nach Deutschland gekommen war, zusammen mit ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester. Nach dem schrecklichen Zugunglück, bei dem ihre Eltern gestorben waren, hatten sie Aufnahme in einem Schulheim in Leh gefunden, der Hauptstadt von Ladakh, auf dem Dach des Himalaya-Gebirges. Das Internat war ein Zweig der Samsara Society, die seit einigen Jahrzehnten zur Verbreitung des buddhistischen Glaubens Indien mit Klöstern, Kinderheimen und Krankenhäusern überzog. In diesem Glauben war sie schon zuvor erzogen worden.
    Ihr Onkel Wolfgang Beuchert hatte sie in der Internationalen Schule Frankfurt im Stadtteil Sindlingen eingeschult. Ihre Mitschüler und Mitschülerinnen kamen aus allen Ländern der Erde. Einige von ihnen wiesen, ebenso wie Sunita, unvollkommene Deutschkenntnisse auf.
    Am heutigen Mittwoch blieb diese Schule wegen irgendeiner Baumaßnahme, die sich Sunita mangels Interesses nicht weiter gemerkt hatte, geschlossen. Sie hatte sich deshalb auf der Zeil verabredet.
    Da ihr Adoptivvater Wolfgang Beuchert an diesem Morgen etwas in der Innenstadt erledigen wollte, hatte er sie mit dem Auto mitgenommen und an der Konstablerwache abgesetzt. Auf der Zeil wollte sie im Telekom-Shop nach einem neuen Mobiltelefon schauen. Ihr altes Handy war gestern ins Waschbecken gefallen und durch die Nässe unbrauchbar geworden. Doch der Telefonladen war noch geschlossen.
    Und auch für ihre Verabredung war es noch zu früh.
    Sunita schlang ihre Arme fest um ihren Oberkörper und rieb die Hände an ihrem Blouson. Sie fror. Zu dumm, dass sie heute Morgen entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit nicht meditiert hatte. Danach fühlte sie sich immer so warm und geborgen. Aber sie war eben in Eile gewesen. Sie reckte sich auf und gebot sich mehr Disziplin.
    Wieder warf sie einen Blick in eines der Schaufenster, hinter
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