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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment
Autoren: Henri Loevenbruck
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Nacht gehüllt, erstreckten sich vor uns Gräber, so weit das Auge reichte. Ich blickte auf meine Armbanduhr. Acht Minuten vor zweiundzwanzig Uhr. Keine zehn Minuten mehr bis zu unserem Treffpunkt.
    »Wo sind Ihre Freunde?«
    »Sie sind längst da. Auf ihren Posten.«
    Plötzlich klang seine Stimme wie die eines Soldaten.
    »Wir wissen nicht einmal, wo dieses Grab liegt!«, flüsterte ich.
    »Am Haupteingang gibt es eine Tafel«, erklärte Badji mir.
    Und er lief vor mir her, wobei er auf seine Schritte achtete, um dem Geäst aus dem Weg zu gehen und keinen Lärm zu machen. Ich folgte ihm und blickte mich nach allen Seiten um, weil ich sehen wollte, ob man uns beobachtete. Aber ich entdeckte niemanden. Wir rannten zwischen den Gräbern hindurch, sprangen über Blumentöpfe, duckten uns hinter Grabsteinen und kleinen Kapellen. Die Friedhofsmauer warf einen schützenden Schatten auf uns. Ich überlegte, dass uns in dieser Dunkelheit nur die Katzen sehen würden, die sich Tag und Nacht wie arme Seelen auf dem Père-Lachaise herumtrieben.
    Außer Atem gelangten wir zu einer alten grünen Tafel, auf der die Grabstätten berühmter Persönlichkeiten verzeichnet waren. Die Tinte war etwas verwischt, aber ich fand den Namen Michelet trotzdem in der Liste. Abschnitt zweiundfünfzig. Fast in der Mitte des Friedhofs. Die Entführer hatten ein Grab gewählt, das weit genug von den Eingängen und vom Haus des Friedhofwärters entfernt war, damit sie ihre Ruhe haben würden.
    »Gut«, begann Badji und deutete auf den Friedhofsplan. »Wir werden uns trennen. Es ist besser, wenn die uns nicht zusammen kommen sehen. Das heißt, die dürfen mich überhaupt nicht sehen. Sie nehmen den direkten, den logischen Weg über die Friedhofsalleen. Ich werde mich im Hintergrund halten und auf Sie Acht geben.«
    Er kramte in seiner Tasche und zog einen Revolver heraus.
    »Nehmen Sie.«
    Ich machte eine ablehnende Geste.
    »Hm, sind Sie sicher, dass das nötig ist?«
    »Louvel, spielen Sie nicht den Idioten.«
    Immerhin war das eine ehrliche Bemerkung.
    »Haben Sie auch einen?«, fragte ich.
    »Zwei.«
    Jede Diskussion war zwecklos. Auch wenn ich Waffen eigentlich ablehnte, war ich doch glücklich, von ihnen beschützt zu werden.
    »Machen Sie aber keine Dummheiten«, warnte ich ihn. »Wir müssen Sophie unbedingt hier rausholen! Also kein unnötiges Feuergefecht, okay?«
    Badji hielt eine Erwiderung für überflüssig. Er verstand seinen Job und machte sich eher Sorgen um mich, ich war sicher, er würde sein Möglichstes tun. Ich war nur nicht sicher, ob es reichen würde.
    Er klopfte mir auf die Schulter, zwinkerte mir zu und verschwand hinter einer Reihe grauer Grabsteine.
    In diesem Moment erfasste mich nackte Angst. Allein, mitten auf dem Friedhof, in finsterer Nacht und Sophies Leben lag in meinen Händen. Die Gleichung war einfach. Ich war der Einzige, der sie retten konnte. Und es gelang mir nicht, diese Verantwortung zu übernehmen. Diese Macht. Erst recht nicht, da die Gleichung nicht aufging.
    Ich hatte den Stein nicht.
    Ich atmete tief durch, versuchte, mir Mut zu machen, kramte in meinen Erinnerungen: Sophies Gesicht, ihr Lächeln, ihre Kraft, ihre Willensstärke, ihre verborgene Zärtlichkeit. Unsere Nacht in London. Die folgenden Nächte. Ich machte mich auf den Weg.
    Über den Gräbern wehte ein heftiger Wind, blies mir in den Rücken. Miauende Katzen huschten über die Gehwege. Jeder Schritt entfernte mich weiter von Paris, vom Lärm der Großstadt. Jeder Meter trennte mich weiter von der realen Welt. Ich hatte das Gefühl, ins Herz der Finsternis zu stürzen. In den Schlund der Hölle. Ich ging über die Toten hinweg, um den Styx zu überqueren. Ich betrat eine Insel, von der ich nicht allein zurückkehren wollte.
    Meine Schritte hallten auf den gepflasterten Wegen des Friedhofs wider. Ein paar aufgeschreckte Tauben flogen vor mir hoch. Von weitem sah ich, wie sich im Dunkeln der kleine Platz abzeichnete, in dessen Nähe sich Michelets Grab befinden musste. Aber ich sah immer noch niemanden.
    Die Hände in den Taschen vergraben, den Kopf eingezogen, kämpfte ich gegen die Angst, die mir befahl, kehrt zu machen. Jeder Schritt war ein Sieg und ein Messerstich in meine Venen. Ich musste kämpfen, um einen Fuß vor den anderen zu setzen. Kämpfen, um zu glauben, dass ich sie retten konnte. Noch nie hatte ich mich so einsam gefühlt.
    Ohne mir des zurückgelegten Weges wirklich bewusst zu sein, stand ich vor dem Grab. Ich konnte wenig
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