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Das Jesusfragment

Das Jesusfragment

Titel: Das Jesusfragment
Autoren: Henri Loevenbruck
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berichten. Die hochschwangere Estelle mit ihrer sanften Stimme. François, der treue Freund. Badji, der mir so viele Male das Leben gerettet hatte. Lucie, die kleine Lucie, die mit mir wie mit einem großen Bruder sprach und oftmals stundenlang meine Hand hielt. Alle redeten auf mich ein, flehten mich an, ins Leben zurückzukehren, aber ich war unfähig zu reagieren. Es gelang mir nicht, mich für irgendetwas zu interessieren. Nachdem ich meine Eltern verloren hatte, hatte ich die erste Frau verloren, die ich wirklich liebte. Und ich fand die Griffe nicht mehr, um mich ans Leben zu klammern.
    Claire Borella erklärte mir, dass ich es unseren Vätern schulde, die Untersuchung zu Ende zu führen. Ich hatte alle Teile des Puzzles in der Hand. Aber ich konnte damit nichts anfangen. Die Botschaft Jesu würde Sophie nicht wieder lebendig machen. Und das konnte Claire nicht begreifen.
    Nach und nach verloren alle den Mut. Claire Borella verließ das Haus der Chevaliers. Sie verkaufte die Wohnung ihres Vaters, zog in ein kleines Apartment ein paar Straßen weiter und kehrte in ihr normales Leben zurück.
    François und Estelle vergaßen am Ende fast, dass ich da war. Ich wurde ein Teil der Einrichtung. Ab und zu versuchten sie noch mich zum Reden zu bringen, aber sie glaubten an keinen Erfolg mehr.
    Badji kehrte zu seinen Schülern zurück.
    Jacqueline verlängerte ihren Aufenthalt in Frankreich. Sie war die Einzige, die nicht auf mich einredete. Sie hatte vermutlich begriffen, dass es keinen Sinn machte. Oder vielleicht war ihr Schmerz genauso groß wie meiner. Einmal in der Woche kam sie zu den Chevaliers, setzte sich neben mich und schenkte sich einen Whisky ein. Ich hörte sie trinken, hörte sie mit den Eiswürfeln in ihrem Glas spielen, seufzen, aber ich sah sie nicht einmal an.
    Und dennoch, eines Tages kehrte ich ins Leben zurück.
    Es war ein Nachmittag wie jeder andere. Meine Augen, die von vergossenen Tränen brannten, waren halb geschlossen. Ich saß in mich versunken in meinem Sessel. Meine Arme hingen herab. Auf dem Boden stand eine leere Flasche. Ein Monat war vergangen. Vielleicht auch mehr. Draußen prangte der Sommer in all seinen Farben, nur ich merkte es nicht. Ich brauchte sehr viel mehr als das, um mich aus meiner Lethargie zu reißen. Mir war nicht einmal heiß. Ich hatte nur Durst.
    Gegen sechzehn Uhr, als die Junisonne vergeblich versuchte, durch die Vorhänge zu dringen, die ich immer geschlossen hielt, rief Lucie an.
    Im Allgemeinen erkundigte sie sich nach mir und unterhielt sich ein paar Minuten mit Estelle. Aber heute bat sie Estelle darum, mir das Telefon zu bringen. Sie wusste jedoch genau, dass ich immer noch nicht reden wollte, mich weigerte, mein Schweigen zu brechen. François war nicht da, beschäftigt mit seinen politischen Ämtern, und ich verbrachte die Tage mit Estelle, die – Ironie des Schicksals – ihren Mutterschaftsurlaub darauf verwendete, mich zu bemuttern.
    Estelle trat an mich heran und hielt mir den Hörer ans Ohr, ohne daran zu glauben, dass ich reden würde. Ich rührte mich nicht.
    »Damien«, begann Lucie mit entschlossener Stimme, »Sphinx ist am Apparat. Wenn Sie nicht in einer Stunde Ihren fetten Arsch aus diesem verdammten Sessel erheben, werde ich an Ihrer Stelle die Botschaft entschlüsseln.«
    Ihre Stimme hallte lange in meinem Kopf wider.
    Als müsste sie einen weiten Weg zurücklegen, um ihr Ziel zu erreichen.
    Aber wie durch ein Wunder erreichte mich die Botschaft endlich. Klick. Wie ein Räderwerk, von dem der Rost abfiel. Und plötzlich beschloss ich, den Mund aufzumachen. Endlich. Der erste Satz, den ich seit Sophies Tod ausstieß, lautete:
    »Das ist mir scheißegal!«
    Estelle, die mir immer noch den Hörer ans Ohr hielt, riss die Augen auf. Sie hatte meine Stimme so lange nicht gehört, dass sie es nicht glauben konnte.
    »Ah ja?«, beharrte Lucie. »Ich glaube, Sophie wäre stolz auf Sie gewesen. Superstolz. Armer Irrer!«
    Dann legte sie auf. Einfach so.
    Ich hörte das Freizeichen des Telefons an meinem Ohr.
    Estelle rührte sich nicht von der Stelle. Sie musterte mich. Ich bin nicht sicher, ob sie überhaupt merkte, dass Lucie aufgelegt hatte. Aber plötzlich stand ich auf und fluchte:
    »Diese kleine Irre!«
    Ich stürzte in den ersten Stock. Ich rannte die Treppe hinauf und ließ Estelle im Wohnzimmer zurück. Ich rannte so schnell ich konnte, als wäre ich verrückt geworden. Estelle musste befürchten, ich würde mich aus dem Fenster stürzen.
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