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Das Jahr der Kraniche - Roman

Das Jahr der Kraniche - Roman

Titel: Das Jahr der Kraniche - Roman
Autoren: Blanvalet-Verlag <München>
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Golf überfahren zu werden. Zehn Wochen später hatte sie ihn, zu ihrem eigenen Erstaunen und zu dem ihrer Mutter und ihrer Freundinnen, geheiratet. All die wütenden Schwüre, die sie sich selbst gegenüber abgelegt hatte, waren in jenem Moment Makulatur geworden, als sie sich in den Armen dieses Fremden wiedergefunden hatte, dem der Schrecken über die Vorstellung ihres vorzeitigen Ablebens– das er verhindert hatte– in die Augen geschrieben stand. Es war nichts anderes gewesen als Schicksal. Dessen war sie sich von diesem ersten Moment an sicher gewesen, in dem es schien, als hätte die Welt um sie herum aufgehört zu existieren. Sie hatte den Regen nicht mehr gespürt, der unaufhörlich auf sie herunterprasselte, der Verkehrslärm der nahen Lindwurmstraße war verstummt, das aufgebrachte Toben des Fahrers, dessen Auto mit quietschenden Bremsen genau da zum Stehen gekommen war, wo sie die Straße hatte überqueren wollen, war nicht bis an ihr Ohr gedrungen. Nur den Herzschlag ihres Retters, an dessen Brust sie lag, hatte sie gespürt, die Wärme seiner Arme, die sie umschlungen hielten, und seinen Atem an ihrer Wange, auf der sich die Regentropfen mit ihren Tränen mischten.
    »Sie müssen besser auf sich aufpassen«, hatte sie seine belegte Stimme flüstern hören.
    Wieso eigentlich? Das könntest doch du übernehmen. Du, der du mir das Leben gerettet hast, könntest doch einfach für den Rest meiner Tage dafür sorgen, dass mir nichts mehr passiert.
    Es war alles so einfach gewesen. Und so richtig: dass dieser Mann sie nach Hause brachte, dass er ihr Tee kochte und ein heißes Bad einließ, dass er sie in ihr verblasst-rotes Lieblingsbadetuch wickelte und ihre Haare trocken föhnte. Und dass er, nachdem er sie wohlbehalten im Bett wusste und ihr eine gute Nacht gewünscht hatte, zwar seine nasse Jacke genommen und sich mit einem Lächeln und der Ermahnung, in Zukunft wirklich besser auf sich aufzupassen, verabschiedet hatte, zwei Minuten später aber wieder vor ihrer Tür stand mit der Frage, ob es nicht vielleicht doch besser sei, wenn er sie in dieser Nacht nicht allein ließe. Möglicherweise stand sie ja unter Schock.
    »Ja«, hatte sie gemurmelt, »Sie haben recht. Ich glaube, ich stehe wirklich unter Schock.«
    Wie anders hätte sie sich sonst diesen merkwürdigen schwebenden Zustand, in dem sie sich befunden hatte, erklären sollen? Er hatte die Nacht in dem verschlissenen Sesselmonster, das sie als Studentin auf einem Flohmarkt erstanden und seitdem durch ihr ganzes Leben geschleppt hatte, verbracht. Und auch am nächsten Morgen, als sie wie gerädert aufgewacht war aus ihren unruhigen Träumen, die von Autos handelten, die auf sie zuschossen, und von Regenschwällen, die sie wegzuspülen drohten, war er nicht weggegangen.
    »Ich heiße übrigens Jan Plathe.«
    Als hätte er ihren Blick in seinem Rücken gespürt, hatte er auf ihre unausgesprochene Frage geantwortet, während er in ihrer Puppenküche Kaffee machte.
    »Guten Morgen, Jan Plathe. Ich weiß nicht, ob ich mich schon bei Ihnen bedankt habe.«
    Er hatte sich zu ihr umgedreht. Dieser Blick… Wie unabsichtlich tastete sie nach einem Küchenstuhl, in der Hoffnung, dass es ihm nicht auffallen würde, dass sie sich an dessen Lehne geradezu festkrallte, weil ihre Knie zitterten. Einen Moment lang musste sie die Augen schließen, als die Erinnerung daran, wie sie tags zuvor im strömenden Regen an der Brust dieses Mannes gelegen hatte, über sie hereinbrach.
    Peinlich! Sie fühlte sich wie ein Teenager vor seinem ersten Date. Nein, sie fühlte sich deutlich schlimmer. Als Fünfzehnjährige war sie entschieden cooler gewesen als in diesem Moment. Sie war zu ihren Dates gegangen in der Gewissheit, dass ihr nichts passieren konnte. Wenn es nicht der Typ von heute war, dann würde morgen ein anderer kommen. Und wenn der auch nicht zu ihr passen sollte, dann würde es noch viele geben, denen sie begegnen würde. Herzklopfen, Magendrücken, Kniewackeln, rauer Hals, gerötetes Gesicht– diese Symptome hatte sie allenfalls bei ihren Freundinnen registriert, wenn es um Jungs ging. Sie dagegen hatte nie etwas erwartet und war deshalb umso entspannter geblieben, was sowohl ihre Freundinnen als auch die betroffenen Jungs in Ratlosigkeit versetzte. Thomas war der erste Mann gewesen, der sie nervös gemacht hatte. Vor dem ersten Date mit ihm hatte sie den halben Tag vor dem Kleiderschrank verbracht, hatte dessen Inhalt auf Bett, Sessel und Fußboden verteilt
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