Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Inselcamp

Das Inselcamp

Titel: Das Inselcamp
Autoren: Martina Steinkuehler
Vom Netzwerk:
Eltern, Großeltern und Bekannten der zwölf. Der Kirchenvorstand war vollzählig.
    Um fünf vor zwölf öffnete sich ein Flügel des Portals. Drinnen war es vollkommen finster. »Ihr seid tot!«, rief eine Stimme aus dem Dunklen. »Wer leben will, soll mit verbundenen Augen eintreten.«
    Die Menge murmelte und murrte. Niemand regte sich. Dann nahm Pitts Vater Judiths Mutter an die Hand und schob sich mit ihr nach vorn. »Das wollen wir doch mal sehen«, sagte er. Zwei schwarze Gestalten nahmen ihn in Empfang und legten ihm eine Augenbinde an. »Setzen und Mund halten«, befahl eine raue Stimme.
    Judiths Mutter widerfuhr das Gleiche. Sie folgte Pitts Vater in die Dunkelheit. Erst als sie Platz genommen hatten, merkte sie, wie sehr sie sich an seiner Hand festgeklammert hatte. »Tut mir leid, Jonas«, flüsterte sie. »Mund halten«, rief die raue Stimme.
    Judiths Mutter konnte hören, wie sich die Kirche allmählich füllte. Sie redete sich ein, dass alles ein Spiel sei, ein Kinderspiel,nicht mehr. Ich bin freiwillig hier, sagte sie sich. Ich kann aufstehen und gehen, sobald ich will.
    Dennoch war es unheimlich, mitten in der Nacht in der Dunkelheit zu sitzen, nicht zu wissen, wer noch da war, was vorging oder was auf sie zukam. Sie ließ ihre Hand in der von Pitts Vater.
    Es dauerte eine Ewigkeit, bis schließlich alle einen Sitzplatz gefunden hatten. Mit einem lauten Knall fiel die Tür hinter ihnen zu. »So!«, sagte eine Stimme von hinten. Sie klang fremd und verzerrt. »Geschafft.«
    Eine zweite Stimme antwortete von vorn. »Hast du sie alle beisammen?« Sie klang kalt und streng. »Alle!« Die unheimliche Stimme von hinten lachte leise. »Blind und gefangen. Die kommen nie wieder raus.« Das Gelächter wurde lauter, mehrstimmig. Echos hallten von den Wänden.
    Judiths Mutter merkte, wie kalt es war, kalt und feucht wie in einer Gruft. »Endlich haben wir sie«, fügte die unheimliche Stimme hinzu. »Obwohl, wenn wir ehrlich sind«, fuhr die kalte Stimme fort, »waren sie doch schon immer blind.« »Und schon immer gefangen«, ergänzte die andere.
    Von überallher erklangen auf einmal weitere Stimmen. »Blind vor Eitelkeit«, rief es, »blind vor Eifer.« Und: »Gefangen im Stress«, »gefangen im Wahn«, »gefangen in tausend Zwängen.« »Die kommen nie wieder raus«, erklärte die Stimme vom Anfang. »Bei den Menschen ist’s unmöglich«, rief die strenge Stimme und eine leise, zaghafte Stimme antwortete fragend: »Aber bei Gott sind alle Dinge möglich …«
    Judiths Mutter glaubte hinter sich Johannas Mutter seufzen zu hören. Aber es konnte auch jede andere sein. Wenn es auch ein Spiel ist, dachte sie unbehaglich, es geht an die Nieren.
    »Tja, Leute«, sagte die unheimliche Stimme und lachte wieder heiser. »Das war’s dann wohl. Wir zählen jetzt bis vierzig. Dann nehmt ihr euch gegenseitig die Augenbinden ab.« »Wenn ihr auch nicht hoffen solltet, dass es nützt«, ergänzte die strenge Stimme. Das vielstimmige Gelächter ertönte neu. Dann zählten unzählige Echos langsam von vierzig zurück.
    Judiths Mutter saß eine Zeitlang starr da und fragte sich, warum sie nicht einfach davonlief. »Zweiundzwanzig«, sagten die Stimmen, »einundzwanzig, zwanzig«.
    Auf einmal ertappte sie sich dabei, dass sie mitzählte. Leise zuerst, dann immer lauter und selbstverständlicher, sprach sie die Zahlen mit. Die Stimme von Pitts Vater drang an ihr Ohr, und sie merkte, dass er das Gleiche tat – und alle anderen in der Gruft taten es auch.
    Der Rhythmus wurde zur Droge. Sie dachte an nichts mehr, nur immer an die nächste Zahl. »Zehn, neun, acht …« Was , dachte sie jäh, kommt nach eins? »Vier, drei, zwei …« Sie begann zu zittern. »Eins!«, schrie die ganze Versammlung. Dann fühlte sie die Hände von Pitts Vater an ihrem Hinterkopf. Er löste den Knoten. Die Binde fiel.
    Endlich erinnerte sie sich daran, dass auch sie eine Aufgabe hatte. Blinzelnd befreite sie Pitts Vater. Dann schaute sie wie alle anderen nach vorn.
    Eine einzige Lichtquelle flammte auf, ein Spot, gelb wie die Sonne. Er traf den Altar. Dort war eine Weihnachtskrippe aufgebaut, Stall, Schafe, Hirten, drei Könige. Maria und Josef waren wahrscheinlich auch da, aber das Gedränge vor der Krippe verdeckte sie.
    »Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind«, riefen Stimmen von allen Seiten, »der wird nicht hineinkommen.« Damit schwang die Kirchentür wieder auf. Der Schein von Fackeln fiel in das dunkle Innere. Man hätte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher