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Das Imperium der Woelfe

Das Imperium der Woelfe

Titel: Das Imperium der Woelfe
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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ausbreitet?«
    »Niemand sagt, dass meine Krankheit schlimmer wird.«
    Unruhig rückte er auf seinem Platz hin und her. »Das stimmt. Entschuldige, ich rede dummes Zeug.«
    Wieder herrschte Schweigen im Wageninnern.
    Die Landschaft glich mehr und mehr einem Feuer aus feuchtem Gras, unwirsch, von zartem Rot umflammt, von grauen Nebelschwaden durchzogen. Einförmig erstreckten sich Wälder über den Horizont, die, je näher der Wagen kam, die Form blutiger Krallen, fein ziselierter Figuren, tiefschwarzer Arabesken annahmen... Von Zeit zu Zeit tauchte ein Dorf auf, einen Kirchturm umrahmend, oder ein Wasserschloss, dessen makelloses Weiß im flirrenden Licht verschwamm. Kaum zu glauben, dass Paris so nah war.
    Laurent unternahm einen letzten Versuch, die Situation zu entspannen: »Versprich mir wenigstens, dass du noch weitere Untersuchungen machen lässt. Ohne Biopsie. Es dauert ja nur wenige Tage. «
    »Wir werden sehen.«
    »Ich begleite dich auch. Ich nehme mir so viel Zeit wie nötig. Wir sind auf deiner Seite, verstehst du?«
    Dieses »Wir« missfiel Anna, es zeigte, wie sehr Laurent sein Wohlwollen ihr gegenüber mit Ackermann teilte. Sie war schon mehr Patientin als Ehefrau.
    Als sie die Hügelkuppe oberhalb von Meudon überquerten, weitete sich der Ausblick über dem strahlenden Weiß endlos dahinfließender Dächer. Paris leuchtete in der funkelnden Klarheit des Sonnenlichts, die Stadt ähnelte einem zugefrorenen See voller Kristalle, voller Eisnadeln und Schneeschollen, und die Gebäude von La Défense glichen hohen Eisbergen.
    Die blendende Pracht versetzte Anna und Laurent in stummes Staunen. Ohne ein einziges Wort zu wechseln, überquerten sie den Pont de Sèvres und passierten Boulogne-Billancourt, bis schließlich Laurent kurz vor der Porte de Saint-Cloud fragte:
    »Soll ich dich zu Hause absetzen?«
    »Nein, bei der Arbeit.«
    »Hattest du nicht gesagt, du wolltest dir heute frei nehmen?«
    Ein Vorwurf lag in seiner Stimme.
    »Ich dachte, ich würde zu müde sein«, log Anna. »Und ich will Clothilde nicht allein lassen. Samstags herrscht im Laden immer sehr großer Andrang.«
    »Clothilde, der Laden...«, wiederholte er in sarkastischem Ton.
    »Na und?«
    »Diese Arbeit ist wirklich unter deinem Niveau.«
    »Du meinst unter deinem.«
    Laurent schwieg, womöglich hatte er den letzten Satz überhört, und reckte den Hals: Der Verkehr auf der Ringautobahn war zum Erliegen gekommen. In ungeduldigem Ton forderte er den Chauffeur auf, er solle sie »da rausholen«. Nicolas hatte sogleich verstanden. Er zog ein Magnet-Blaulicht aus dem Handschuhfach und heftete es auf das Dach des Peugeot 607. Unter Sirenengeheul bahnte sich die Limousine ihren Weg durch den Verkehr, sie legte an Tempo zu. Nicolas nahm den Fuß nicht mehr vom Gas, während sich Laurent an die Rückenlehne des Vordersitzes klammerte und jede Bewegung des Fahrers aufmerksam verfolgte, gebannt wie ein vor einem Videospiel sitzendes Kind. Trotz aller Diplomatie, trotz seines leitenden Postens im Innenministerium konnte Laurent die Spannung am Ort des Geschehens, die Faszination der Straße nicht vergessen. Armer Bulle, dachte Anna.
    An der Porte Maillot verließen sie den Boulevard Périphérique, und als sie in die Avenue des Ternes einbogen, stellte der Chauffeur die Sirene wieder ab. Anna war zurück in ihrer Alltagswelt, die die prachtvollen Schaufenster der Rue du Faubourg-Saint-Honoré und die weiten Fensterfluchten in der ersten Etage der Salle Pleyel mit ihren Tänzerinnen-Motiven ebenso umspannte wie die Mahagoniarkaden von Mariage Frères, wo sie erlesene Teesorten zu kaufen pflegte.
    Bevor Anna die Tür des Peugeot öffnete, nahm sie das von der Sirene unterbrochene Gespräch wieder auf: »Es ist nicht nur ein Job, weißt du. Es ist meine einzige Chance, mit der Außenwelt in Verbindung zu bleiben. Sonst würde ich in unserer Wohnung ja völlig durchdrehen.«
    Sie stieg aus dem Wagen und beugte sich noch einmal zu ihm herunter: »Entweder ich mache das, oder ich komme ins Irrenhaus, verstehst du?«
    Sie tauschten einen letzten Blick und waren für einen Augenblick wieder Verbündete. Es wäre ihr nicht in den Sinn gekommen, ihre Verbindung als »Liebe« zu bezeichnen, doch waren sie Komplizen, denn da war etwas Gemeinsames auch jenseits von Lust und Leidenschaft, jenseits der durch Tage und Launen bestimmten Schwankungen. Sie waren wie ruhige, unterirdische Wasser, die sich in der Tiefe mischten, sie verstanden sich auch ohne Worte,
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