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Das Imperium der Woelfe

Das Imperium der Woelfe

Titel: Das Imperium der Woelfe
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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nicht... desto länger dauerte es, bis ich ihn erkannte.«
    »Und dann hast du mit ihm darüber gesprochen?«
    »Nein.«
    »Warum nicht?«
    Sie schlug die Beine übereinander und bettete ihre zarten Hände - zwei Vögel mit blassem Gefieder - auf ihren Rock aus dunkler Seide: »Ich hatte den Eindruck, darüber zu reden würde alles nur schlimmer machen. Und außerdem ... «
    Der Neurologe sah sie an, seine feuerroten Haare spiegelten sich auf der Wölbung seiner Brillengläser. »Und dann?«
    »Es ist nicht leicht, seinem Mann so etwas zu sagen. Er...«
    Sie spürte Laurents Gegenwart, er stand hinter ihr, an einen Stahlblechschrank gelehnt. »Laurent wurde für mich ein Fremder. «
    Der Arzt schien ihre Verwirrung zu bemerken und wechselte das Thema: »Hast du auch bei anderen Gesichtern Schwierigkeiten, sie wieder zu erkennen?«
    »Manchmal«, sagte sie zögernd. »Aber nur sehr selten.«
    »Bei wem zum Beispiel?«
    »Bei den Händlern in unserem Viertel. Auch bei der Arbeit, ich erkenne manche Kunden nicht, obwohl sie regelmäßig kommen.«
    »Und deine Freunde?«
    Anna machte eine vage Handbewegung: »Ich habe keine Freunde.«
    »Deine Familie?«
    »Meine Eltern sind tot. Ich habe nur ein paar Onkel und Vettern im Südwesten. Ich besuche sie nie.«
    Ackermann machte weitere Notizen, seine Gesichtszüge zeigten nicht den Hauch einer Regung, sie wirkten wie erstarrt.
    Anna hasste diesen Mann, ein Freund von Laurents Familie, der gelegentlich abends zum Essen vorbeikam. Von ihm ging eine gleich bleibende eisige Kälte aus, was auch immer geschah, es sei denn, man kam auf seine Forschung zu sprechen - das Gehirn, die Hirngeografie, das kognitive System des Menschen. Dann ergriff ihn eine seltsame Begeisterung, er kam ins Schwärmen, und seine länglichen, rot behaarten Hände gestikulierten wild in der Luft umher.
    »Laurents Gesicht stellt also das größte Problem für dich dar?«, fragte der Arzt.
    »Ja, aber es steht mir ja auch am nächsten. Ich sehe es nun einmal am häufigsten.«
    »Hast du noch andere Erinnerungslücken?«
    Anna biss sich auf die Unterlippe, sie zögerte erneut. »Nein.«
    »Schwierigkeiten, dich zu orientieren?«
    »Nein.«
    »Mühe bei der Aussprache?«
    »Nein.«
    »Fallen dir manche Bewegungen schwer?«
    Statt zu antworten, huschte ein feines Lächeln über ihren Mund: »Du denkst, ich hätte Alzheimer, stimmt's?«
    »Ich will nur sichergehen, das ist alles.«
    Es war die erste Krankheit, an die Anna gedacht hatte. Sie hatte sich erkundigt und in medizinischen Lexika nachgelesen: Gesichter nicht wieder zu erkennen war eines der Symptome von Alzheimer.
    Ackermann sagte in einem Ton, als wolle er ein Kind zur Vernunft bringen: »Du bist erstens nicht im richtigen Alter, und zweitens hätte ich diese Erkrankung bereits nach der ersten Untersuchung festgestellt. Ein Gehirn, das von einer neuro-degenerativen Krankheit befallen ist, weist ganz bestimmte Merkmale auf. Trotzdem muss ich dir all diese Fragen stellen, um eine vollständige Diagnose abzugeben. Verstehst du?«
    Er wartete nicht auf ihre Antwort, sondern fuhr fort: »Hast du Mühe, bestimmte Bewegungen auszuführen?«
    »Nein.«
    »Schlafstörungen?«
    »Nein.«
    »Plötzliche Abwesenheiten?«
    »Nein.«
    »Migräneanfälle?«
    »Überhaupt nicht.«
    Der Arzt legte den Notizblock beiseite. Wenn Dr. Ackermann aufstand, rief er jedes Mal dieselbe Überraschung hervor, schließlich maß er, mit seinen circa sechzig Kilo, einen Meter neunzig; er wirkte wie eine Bohnenstange in einem zum Trocknen aufgehängten Kittel. Er war ein feuriger Rothaariger, sein schlecht geschnittenes krauses Haar flammte lichterloh, und unzählige Sommersprossen übersäten - einschließlich der Augenlider - sein Gesicht, das nicht zuletzt wegen dem Gestell seiner eckigen Metallbrille äußerst kantig wirkte. Obwohl er älter war als Laurent und wie ein junger Mann aussah, hatte er einen merkwürdig alterslosen Ausdruck. Auf seinem Gesicht zeigten sich erste Falten, die seine adlerhaften, scharfen, undurchdringlichen Züge kaum milderten. Aknenarben auf beiden Wangen verliehen ihm etwas Lebendiges, eine Vergangenheit.
    Schweigend machte er ein paar Schritte in dem Büroschlauch, die Sekunden zogen sich unerträglich in die Länge, bis Anna es nicht mehr aushielt und fragte: »Was zum Teufel habe ich denn nun?«
    Der Neurologe spielte mit einem Metallgegenstand in seiner Tasche, zweifelsohne ein Schlüssel, der mit kurzem Geklimper den folgenden Vortrag
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