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Das Imperium der Woelfe

Das Imperium der Woelfe

Titel: Das Imperium der Woelfe
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Nebelschwaden, und alles wurde weiß, watteartig, feucht. Eine Haut aus Wolken. Die ersten Schneehaufen lagen am Wegesrand, es war ein besonderer Schnee, mit rötlich leuchtendem Sand durchmischt.
    Vor dem letzten Abschnitt zog er Schneeketten über die Reifen, dann fuhr er weiter. Noch fast eine Stunde kroch er über die holprige Strecke. Die Schneewehen leuchteten mehr und mehr, sie sahen aus wie kraftlose Körper. Die letzte Etappe des Weges der Reinheit.
    »Ich habe die Schneehänge gestreichelt
    bestreut von rosafarbnem Sand
    angeschwollen wie die Leiber von Frauen... «
    Endlich tauchte der Parkplatz am Fuß des Felsens auf. Darüber, unsichtbar und von Nebel umhüllt, ragte der Gipfel in die Höhe. Er stieg aus dem Wagen und genoss die Atmosphäre, das Schweigen des Schnees lag über der Landschaft wie ein Block aus Kristall.
    Er füllte seine Lunge mit der eiskalten Luft. Er war auf mehr als zweitausend Metern Höhe und musste noch dreihundert Meter weiter hinaufgehen. Er aß zwei Stück Schokolade zur Stärkung und ging los, die Hände in den Taschen.
    Er kam an der Hütte der Wächter vorbei, die bis zum Mai geschlossen blieb, dann folgte er dem steinernen Pfad, der unter dem Schnee kaum auszumachen war. Der Aufstieg wurde schwieriger. Er musste einen Umweg nehmen, um den steilen Abhang zu vermeiden. Er ging schräg am Berg entlang und stützte sich links an Stein und Eis ab, bemüht, nicht ins Leere zu stürzen. Der Schnee knirschte unter seinen Schritten.
    Er begann zu hecheln. Er spürte seinen Körper und seinen Geist. Er erreichte die erste östlich gelegene Terrasse, der Gedanke an eine Pause kam ihm nicht in den Sinn. Hier waren die Statuen schon zu sehr verwittert. Nur ein paar Augenblicke verweilte er am Altar des Feuers, der aus dem Stein gehauenen bronzegrünen Plattform, von der aus man rundherum auf das Taurus-Gebirge blicken konnte.
    Jetzt endlich beschien Sonne die Landschaft. Unten im Tal zogen rote Flächen, gelbe Bisswunden und smaragdfarbene Offnungen vorüber, Spuren der Ebenen, die die Fruchtbarkeit der früheren Reiche begründet hatten. Das Licht ruhte auf diesen Kratern, es grub weiße, zitternde Teiche. An anderen Stellen schien es schon zu verdampfen, als Staub in die Höhe zu steigen und jedes kleinste Teil in Milliarden Pailletten aufzulösen. Anderswo spielte die Sonne mit den Wolken, Schatten zogen über die Berge wie der Ausdruck von Gesichtern.
    Ein unaussprechliches Gefühl ergriff ihn. Er konnte kaum glauben, dass dieses Land das seine war, dass er selbst zu dieser Schönheit und dieser unendlichen Weite gehörte. Er glaubte, die Horden seiner Vorfahren am Horizont auftauchen zu sehen, die ersten Türken, die Anatolien Macht und Zivilisation gebracht hatten.
    Als er näher hinsah, bemerkte er, dass es sich weder um Menschen noch um Pferde, sondern um Wölfe handelte. Rudel von silbern schimmernden Wölfen, die sich mit dem Licht der Erde verbanden. Göttliche Wölfe, bereit, sich mit den Menschen zu vereinen, um eine vollkommene Kriegerrasse hervorzubringen ...
    Er ging den Weg zum westlichen Abhang weiter. Der Schnee wurde dicker und zugleich leichter, weicher. Er warf einen Blick zurück auf seine eigenen Spuren und musste an eine mystische Schrift denken, die in ein Schweigen übersetzt worden war.
    Endlich erreichte er die nächste Terrasse, auf der die steinernen Köpfe standen. Fünf riesengroße Köpfe, jeder zwei Meter hoch. Ursprünglich hatten sie auf massiven Körpern gestanden, auf dem Gipfel des Grabhügels, doch Erdbeben hatten sie zerstört. Später hatten Menschen sie wieder aufgerichtet, und sie schienen an Kraft gewonnen zu haben, direkt über dem Boden schwebend, als wären ihre Schultern die Strebebögen des Berges.
    In der Mitte stand Antiochus I., der König von Kommagene, der bei den Mestizenkönigen hatte sterben wollen, die griechischen oder persischen Ursprungs und somit aus dem Synkretismus jener verlorenen Zivilisation hervorgegangen waren. Zu seiner Seite Zeus-Ahurâ Mazdâh, der Gott der Götter, der sich im Blitz und Feuer manifestierte, Apollon-Mithra, der forderte, dass Menschen im Blut von Stieren geheiligt wurden, und Tsyche, die unter der Krone aus Ähren und Früchten die Fruchtbarkeit des Königreiches symbolisierte ...
    Trotz ihrer Macht stellten diese Gesichter mit ihren herzförmigen Quellmündern und ihren lockigen Bärten den Ausdruck sanfter Jugend zur Schau; vor allem ihre großen weißen Augen schienen in Träumen versunken.
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