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Das Imperium der Woelfe

Das Imperium der Woelfe

Titel: Das Imperium der Woelfe
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Selbst die Wächter des Heiligtums - der Löwe, König der Tiere, und der Adler, Herr des Himmels - trugen zur Sanftmut des Umzuges bei, obgleich leicht verwittert und von Schnee bedeckt.
    Die richtige Zeitpunkt war noch nicht gekommen, der Nebel hing zu undurchdringlich über dem Berg, als dass die Erscheinung sich hätte einstellen können. Er zog seinen Schal fester zu und dachte an den Herrscher, der das Denkmal hatte bauen lassen. Antiochus Epiphanes I. Seine Herrschaft war so blühend gewesen, dass er geglaubt hatte, er sei von den Göttern gesegnet. Er betrachtete sich als einer von ihnen und ließ sich auf dem Gipfel des heiligen Berges bestatten.
    Auch Isam'i'l Kudseyi hatte sich für einen Gott gehalten und geglaubt, er habe ein Recht, über Leben und Tod seiner Untertanen zu verfügen. Doch er hatte das Wichtigste vergessen, denn auch er war nur ein Instrument der großen Sache, ein winziger Teil Turans. Weil er dies nicht beachtet hatte, hatte er sich selbst und die Wölfe verraten. Er hatte das von ihm einstmals verkörperte Gesetz verhöhnt und war ein degenerierter, verletzlicher Mensch geworden. Deshalb hatte Sema ihn töten können.
    Sema. Plötzlich verspürte er einen bitteren Geschmack im Mund. Obwohl er sie hatte erledigen können, fühlte er sich nicht als Sieger. Das Ganze war nichts als ein Desaster, eine Niederlage, die er hatte verhindern wollen, indem er seine Beute nach den alten Regeln opferte. Er hatte ihr Herz den Göttern von Nemrud Dag geweiht, den stets von ihm verehrten Göttern, indem er ihre Züge ins Fleisch seiner Opfer schnitt.
    Der Nebel begann sich zu lichten, und er kniete im Schnee nieder und wartete. In ein paar Momenten würde der Nebel aufsteigen und zum letzten Mal die riesigen Köpfe verschleiern und in ihrer Leichtigkeit forttragen, er würde ihre Bewegung antreiben - und sie zum Leben erwecken.
    Die Gesichter würden Klarheit und Konturen verlieren und über dem Schnee schweben. Unmöglich, in diesem Moment nicht an einen Wald zu denken; unmöglich, sie nicht vorwärts schreiten zu sehen... Zuerst Antiochus, dann Tsyche und die anderen Unsterblichen hinter ihr, umschmeichelt, von eisigem Dunst umgeben. Dann würden sich in diesem Zustand des Schwebens ihre Lippen öffnen und die Worte daraus hervordringen.
    Als Kind hatte er dieses Wunder oft erlebt. Er hatte gelernt, das Gemurmel aufzufangen, die Sprache zu verstehen, die für alle, die nicht am Fuße des Berges geboren waren, so mineralisch, antik und unverständlich klang.
    Er schloss die Augen und betete darum, dass ihm die Riesen Milde gewährten. Und er hoffte auf ein neues Orakel, auf Worte aus dem Dunst, die ihm seine Zukunft offenbarten. Was würden ihm heute die Wegweiser der Steine zuflüstern?
    »Keine Bewegung! «
    Der Mann erstarrte. Er glaubte an eine Halluzination, doch der kalte Stahl einer Waffe wurde gegen seine Schläfe gedrückt. Die Stimme wiederholte auf Französisch: »Keine Bewegung.«
    Die Stimme einer Frau.
    Vorsichtig wandte er den Kopf und sah eine große Gestalt, die von einem Parka und einer schwarzen Keilhose verhüllt wurde. Ihre pechschwarzen Haare fielen unterhalb einer Mütze in dichten Locken auf beide Schultern.
    Er war wie erstarrt. Wie hatte diese Frau ihm bis hierher folgen können?
    »Wer bist du?«, fragte er ebenfalls auf Französisch.
    »Unwichtig, wie ich heiße.«
    »Wer hat dich geschickt?«
    »Sema.«
    »Sema ist tot.«
    Er konnte nicht hinnehmen, hier im Geheimnis seines Pilgertums überrascht zu werden. Die Stimme fuhr fort: »Ich bin die Frau, die ihr in Paris beigestanden hat. Mit deren Hilfe sie der Polizei entwischt ist, ihr Gedächtnis wieder gefunden hat und in die Türkei gekommen ist, um Ihnen gegenüberzutreten.«
    Der Mann nickte. Ja, von Anfang an fehlte ein Glied in der Kette. Sema Hunsen hatte nicht aus eigener Kraft so lange verschwinden können, sie hatte Hilfe erhalten. Eine Frage kam ihm über die Lippen, mit einer Ungeduld, die er sogleich bereute: »Wo waren die Drogen?«
    »Auf einem Friedhof. In Begräbnisurnen. Ein bisschen weißes Pulver zwischen all dem grauen... «
    Er nickte wieder und erkannte Semas Ironie, die ihren Beruf ausgeübt hatte wie ein Spiel. All das hörte sich richtig an und hatte einen klaren kristallenen Klang.
    »Wie hast du mich gefunden?«
    »Sema hat mir einen Brief geschrieben. Sie hat mir alles erklärt. Ihre Herkunft. Ihre Bildung. Ihre Spezialität. Und sie hat mir die Namen ihrer Freunde von früher genannt, die
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