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Das Imperium der Woelfe

Das Imperium der Woelfe

Titel: Das Imperium der Woelfe
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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aus. Sein Gesicht ist verdreht, entstellt. Seine Hände leuchten im Dunkeln wie gezückte Waffen...
    Anna weicht zurück und verschwindet zwischen den aufgehängten Mänteln. Der Mann kommt auf sie zu. Sie will schreien, aber ihre Kehle brennt wie lodernde Watte. Das Gesicht ist nur noch wenige Zentimeter entfernt. Ein Reflex des Spiegels scheint ihr ins Auge, ein goldener Funke blitzt auf ihren Pupillen...
    »Sollen wir jetzt gehen?«
    Anna unterdrückte ein Seufzen, es war Laurents Stimme. Sogleich sah sein Gesicht wieder normal aus, sie spürte zwei Hände, die sie hielten, und begriff, dass sie ohnmächtig geworden war.
    »Meine Güte«, rief Laurent, »was hast du bloß?«
    »Mein Mantel, gib mir meinen Mantel«, befahl sie und befreite sich aus seinen Armen.
    Das Unwohlsein hielt an, und Anna hätte schwören können, dass seine Züge andere Formen angenommen hatten, es war ein anderes Gesicht, das sein eigenes Geheimnis barg, eine dunkle Zone...
    Laurent reichte ihr den Dufflecoat. Er zitterte. Zweifelsohne hatte er Angst, Angst um sie; und um sich selbst, denn er befürchtete, seine Kollegen könnten ahnen, dass ein leitender Beamter des Innenministeriums verheiratet war mit einer Verrückten.
    Ihre Arme glitten in den Mantel, und Anna genoss die Berührung mit dem seidigen Futter. Am liebsten wäre sie für immer hineingeschlüpft und darin verschwunden...
    Aus dem Wohnzimmer drang lautes Gelächter in die Diele.
    »Ich verabschiede mich für uns beide.«
    Sie hörte vorwurfsvolle Stimmen, gefolgt von erneutem Lachen. Anna warf einen letzten Blick in den Spiegel. Eines Tages, schon bald, würde sie sich bei diesem Anblick fragen: »Wer ist das?«
    Laurent kam zurück, und sie flüsterte ihm zu: »Bring mich hier weg, ich will nach Hause. Ich will schlafen.«

Kapitel 6
     
    Doch der Spuk verfolgte sie noch im Schlaf. Seit sie diese Anfälle hatte, verfolgte Anna immer wieder derselbe Traum. Bilder in Schwarz-Weiß zogen wie in einem Stummfilm in unregelmäßigem Tempo an ihren Augen vorbei.
    Die Szene war jedes Mal dieselbe: Nachts warteten hungrig aussehende Bauern auf einem Bahnsteig. Ein Güterzug kam angefahren, in Dampf eingehüllt. Eine Wand öffnete sich. Ein Mann mit einer Mütze erschien und beugte sich vor, um eine Fahne zu ergreifen, die ihm jemand hinhielt. Auf der Fahne war ein seltsames Zeichen zu erkennen: vier nach den Himmelsrichtungen angeordnete Monde. Dann richtete der Mann sich auf, zog die tiefschwarzen Brauen hoch, hielt eine Rede an die Menge und ließ dabei die Fahne im Winde wehen. Seine Worte blieben unverständlich, stattdessen hob eine Art Klangteppich an: ein furchtbares Stimmengewirr, das Seufzen und Schluchzen von Kindern.
    Annas Flüstern mischte sich in die herzzerreißenden Klänge dieses Chores, und sie wandte sich an die jungen Stimmen: »Wo seid ihr? Warum weint ihr?«
    Statt einer Antwort fegte ein leichter Wind über den Bahnsteig. Die vier Monde auf der Fahne begannen zu leuchten, und die Szene verwandelte sich vollends in einen Albtraum. Der Mantel des Mannes öffnete sich und enthüllte einen nackten, offenen, ausgeweideten Brustkorb; dann zerfetzte ein Windstoß sein Gesicht in tausend Stücke. Von den Ohren an wurde die Haut zu Asche pulverisiert, und man erkannte schwarze hervorspringende Muskeln.
    Anna fuhr aus dem Schlaf hoch. Mit weit geöffneten Augen starrte sie in die Dunkelheit, doch konnte sie weder das Zimmer noch das Bett noch den Körper erkennen, der neben ihr schlief. Sie brauchte einige Sekunden, um sich mit den fremden Formen vertraut zu machen, lehnte sich an die Wand und fuhr mit beiden Händen über ihr schweißtriefendes Gesicht.
    Warum kehrte dieser Traum immer wieder? Was hatte er mit ihrer Krankheit zu tun? Der Traum konnte einzig und allein eine andere Ausdrucksform ihres Leidens sein, ein geheimnisvolles Echo, ein unerklärlicher Widerpart ihrer geistigen Verwirrung. Sie rief ins Dunkel: »Laurent?«
    Ihr Mann rührte sich nicht, er hatte ihr den Rücken zugekehrt. Anna ertastete seine Schulter: »Laurent, schläfst du?«
    »Jetzt nicht mehr.«
    »Kann... kann ich dich etwas fragen?«
    Er richtete sich halb auf, das Kissen in den Nacken gerollt: »Ich höre.«
    Mit gedämpfter Stimme, die Schluchzer aus dem Traum klangen ihr noch in den Ohren, fragte Anna: »Warum...«, sie zögerte, »... haben wir kein Kind?«
    Für eine Sekunde herrschte absolute Stille, dann schob Laurent die Decke beiseite und setzte sich auf den Bettrand. Die Stille
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